Die Fahrt des Leviathan
Konföderation ihr Territorium an den Rändern davonbröckelte. Es sah nicht gut aus.
Wie schlecht es um den Süden bereits stand, hatte Healey auf seiner anstrengenden tagelangen Bahnfahrt feststellen können. Die Eisenbahnen waren heruntergekommen, da viele Bahnangestellte nun bei der Armee dienten. Die Belastungen des Krieges setzten Schienen, Lokomotiven und Waggons übel zu, und weil die Bahngesellschaften des Südens keine Ersatzteile mehr von den ausnahmslos im Norden liegenden Fabriken beziehen konnten, war schon jetzt, nach nur anderthalb Jahren, vieles notdürftig zusammengeflickt. Die verschlissenen Züge fuhren selten, langsam und rumpelten mit furchterregendem Schwanken über schadhafte Strecken. So groß war die Tortur der langen Reise von Richmond nach North Carolina gewesen, dass Healey ein kurzes Dankesgebet zum Himmel geschickt hatte, als er am Grenzbahnhof in einen Zug der Karolinischen Nordbahn umsteigen konnte. Dafür hatte er allerdings bis Friedrichsburg einem Neger gegenübersitzen müssen. Es war ihm nicht möglich gewesen, den Platz zu wechseln, da die seltsam konstruierten kurzen preußischen Eisenbahnwagen nicht wie amerikanische einen langen Raum mit Bänken zu beiden Seiten eines in der Mitte verlaufenden Ganges aufwiesen, sondern aus völlig voneinander getrennten Abteilen mit eigenen Einstiegstüren bestanden. Somit war ihm nichts anderes übrig geblieben, als den schwarzen Mitreisenden zu ignorieren. Das war ihm aber nicht schwergefallen, denn eigentlich war ihm gleichgültig gewesen, wer da mit ihm im Abteil saß. Überhaupt war ihm fast alles gleichgültig, selbst dieses traurige Büro, in das ihn die Regierung nur gesetzt hatte, weil er Deutsch wie seine Muttersprache beherrschte.
Healey verlor das Interesse an der Karte. Er nahm seinen Koffer wieder an sich und ging die Treppe hinauf, die zu den Wohnräumen führte. Nach dem, was er hier unten vorgefunden hatte, sah er seiner neuen Behausung nicht mit Enthusiasmus entgegen.
22. Oktober
New York
Pfeyfer war überwältigt. Hätte ihn jemand in diesem Moment angesprochen, er wäre nicht in der Lage gewesen, zu antworten.
Er hatte gewusst, dass die
Great Eastern
groß war. Wie jedem gebildeten Menschen waren ihm die Ausmaße des Schiffes aus den vielen Zeitungsberichten bekannt, in denen man es beschrieben hatte. Doch jetzt stellte er fest, dass sämtliche Schilderungen ihn nicht auf den Anblick vorbereitet hatten, der sich ihm hier offenbarte. Vom Bug des kleinen Dampfbootes aus starrte er gebannt auf das gewaltigste Werk von Menschenhand, das die Welt je gesehen hatte.
Einem vorzeitlichen Koloss gleich lag die
Great Eastern
im East River, dort wo sich der Fluss zwischen Long Island und der Bronx zur Flushing Bay weitete. Ihr riesenhafter nachtschwarzer Rumpf, an dessen Seiten sich enorme Schaufelräder in haushohen Gehäusen befanden, wurde von fünf turmartigen Schornsteinen und sechs weit emporragenden Masten gekrönt. Die Bucht selbst schien durch die schiere Größe des titanischen Schiffes zu schrumpfen. Die
Great Eastern
demütigte ihre Umgebung, reduzierte alles, was sich in ihrer Nähe befand, auf zwergenhaftes Format.
Während sich das Boot der
Great Eastern
näherte und ihre Dimensionen mit schwindender Distanz immer erdrückender wurden, zwang Pfeyfer sich, wieder einen klaren Kopf zu erlangen, indem er sich die ihm bekannten Fakten ins Gedächtnis rief und kühl rekapitulierte. Er wusste, dass der Rumpf des Schiffes fast siebenhundert Fuß in der Länge maß und seine Breite über achtzig Fuß betrug. Ebenso hatte er gelesen, dass die Dampfmaschinen mit einer Leistung von mindestens achttausend Pferdestärken die kräftigsten der Welt waren und mühelos nicht nur die beiden Schaufelräder, sondern auch noch eine mächtige Schiffsschraube antrieben. Mehr als zweiunddreißigtausend Tonnen Wasser verdrängte die
Great Eastern
und übertraf damit selbst die stattlichsten Dampfschiffe auf den Ozeanen leicht um das Fünffache. Sie war das größte bewegliche Objekt , das Menschen jemals gebaut hatten. Das Werk des begnadetsten Ingenieurs der Welt. Und dessen Verderben.
Zwar hatte Pfeyfer das tragische Schicksal Isambard Kingdom Brunels nur beiläufig verfolgt, doch ihm war klar, dass die
Great Eastern,
dessen ehrgeizigste und brillanteste Schöpfung, dem gefeierten Konstrukteur den Tod gebracht hatte. Seine Finanziers waren nicht nur dafür verantwortlich, mit unsinnigen Änderungen und Einsparungen den Bau endlos
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