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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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stehenden Sonne fiel durch das zur Straße weisende staubige Fenster und warf die kunstlos auf das Glas gemalten Buchstaben als verzerrte Schatten auf die gegenüberliegende Landkarte:
Richmond-Handelsgesellschaft.
    Die Schäbigkeit der Räumlichkeiten spiegelte die Bedeutungslosigkeit dieses Ortes wider. Dies also war Healeys neues Reich. Er stöhnte resigniert.
    Sein einziger Trost war, dass er nach Lage der Dinge nicht viel Zeit in diesem Büro würde verbringen müssen. Es gab so gut wie keine Arbeit, die seine Anwesenheit hier erfordert hätte. Die Richmond-Handelsgesellschaft war eine Scheinfirma, gegründet und geführt vom Außenministerium der Konföderierten Staaten, um die Yankee-Blockade zu umgehen. Über Friedrichsburg sollten ungehindert Erzeugnisse des Südens nach Europa ausgeführt und im Gegenzug dringend benötigte Güter importiert werden. Eine gute Idee, die leider an einem entscheidenden Detail krankte – es gab nichts, was der Süden anzubieten hatte. Der Kongress in Richmond hatte nämlich in seiner Weisheit beschlossen, den Export von Baumwolle zu verbieten. Auf diese Weise, so hatte Healey gehört, sollten besonders Großbritannien und Frankreich erpresst werden, deren Textilindustrien gänzlich von der Baumwolle der Südstaaten abhängig waren. Die Drohung von Massenarbeitslosigkeit und Arbeiterunruhen, so das Kalkül, würde die Regierungen nötigen, den Süden als unabhängigen Staat anzuerkennen und diplomatischen Druck auf Washington auszuüben, ja vielleicht sogar auf der Seite der Konföderation in den Krieg einzutreten. Nur schien dieses Kalkül nicht aufzugehen. Die europäischen Regierungen zeigten keine Neigung, den Süden zu unterstützen. Zehntausende transportbereiter Ballen Baumwolle verstaubten in Lagerhäusern überall in den Südstaaten. Und die Richmond-Handelsgesellschaft hatte außer ein wenig Virginia-Tabak nichts zu verkaufen. Das Friedrichsburger Büro nahm sich denn auch nicht gerade wie ein Zentrum lebhaften Geschäftsbetriebs aus. Healey hatte vernommen, dass sein Vorgänger auf diesem Posten kürzlich verstorben war. An Langeweile, wie er argwöhnte.
    Erschöpft stellte er seinen Koffer ab und ließ sich auf den Drehstuhl hinter dem Tisch sacken. Er bereute es sogleich, denn das Holz reagierte auf die plötzliche Belastung mit einem bedrohlichen Ächzen. Alarmiert sprang er sofort wieder auf. Nachdem er eine endlos scheinende und unbequeme Reise überstanden hatte, wollte er sich nicht wegen eines maroden Stuhls einen Knochenbruch zuziehen.
    Da er auch keinem der anderen Stühle traute, blieb er stehen und ging hinüber zu der großen Wandkarte, um sich wenigstens für einen Augenblick mit etwas anderem als dem unerfreulichen Anblick seiner neuen Arbeitsstätte zu befassen. Dem hemmungslos verschnörkelten Titel über der Zeichenerklärung zufolge zeigte die Karte
The Confederate States of America
und war im Juli 1861 bei Messrs. Richards & D’Isigny in Richmond gedruckt worden. Das Territorium der Konföderation war durch kräftige rote Ränder kenntlich gemacht, während sich die Union für ihre Grenzlinien mit einer fahlblauen Schraffur begnügen musste. Das preußische Karolina, auf der Karte trotzig als
South Carolina
mit dem erheblich kleiner gehaltenen Zusatz
Prussian Karolina
bezeichnet, ragte als hellgelb umrandeter Zacken in das Herzland der Konföderation hinein.
    Healey entging nicht, dass sein Vorgänger, ein Mann mit dem wenig originellen Namen Miller, mit großem Interesse den Verlauf des Krieges verfolgt hatte. Die Orte aller größeren Gefechte und Schlachten waren mit Stecknadeln markiert. Nadeln mit roten Köpfen standen für Siege des Südens, Blau hingegen zeigte an, dass der Norden das Feld behauptet hatte. Die Zahl der roten Nadeln überwog, wenigstens bis zu dem Zeitpunkt, da es Mr. Miller infolge seines Dahinscheidens nicht mehr möglich gewesen war, die Karte zu aktualisieren.
    Der Optimismus, den die Landkarte aus den ersten Monaten der Sezession atmete, nötigte Healey ein zynisches Grinsen ab. Er wusste nur zu gut, dass die Realität längst anders aussah. Yankeetruppen hatten sich der Häfen des Südens bemächtigt oder blockierten sie von See her. Die größte Stadt der Konföderation, das reiche New Orleans an der Mündung des Mississippis, war in einem handstreichartigen Landungsunternehmen von der Union okkupiert worden. Alle noch so kühn auf den Schlachtfeldern erkämpften Siege hatten nicht verhindern können, dass der

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