Die Fahrt des Leviathan
der gegenseitigen Rückversicherung.« Lincoln ließ die Kette mit dem Schlüssel wieder unter seinem Mantel verschwinden und sprach weiter: »Sollte Amerika sich jemals feindselig gegenüber Preußen zeigen und namentlich South Carolina zurückfordern, würde der König sein Exemplar hervorholen und die Taten unserer Gründerväter offenlegen, so die erklärte Absicht.«
»Das ist doch Erpressung!«
»Keineswegs, Sir«, widersprach Lincoln. »Auch der anderen Seite ist sehr daran gelegen, dass die in diesem Dokument enthaltenen Tatsachen verborgen bleiben. Wenn ruchbar würde, auf welche Weise Prinz Heinrich die Engländer hintergangen hat, als deren Verbündete die Preußen ja nach Amerika gekommen waren, wären nicht nur sein Andenken und die vielbeschworene Lauterkeit Preußens dahin. Selbst gravierende politische Konsequenzen könnten die Folge sein. Um das zu verhindern, enthält sich Preußen jeglicher gegen die Vereinigten Staaten gerichteten Aktivitäten und tritt keinem Pakt bei, der amerikanischen Interessen schaden soll.«
»Es ist Erpressung«, beharrte Davis verstört. »Doch nun verstehe ich wenigstens, weshalb alle Präsidenten, die mit dem Versprechen zur Wahl angetreten waren, sich nach Kräften für die Rückgewinnung South Carolinas einzusetzen, diese Gelöbnisse sogleich nach ihrer Amtseinführung vergessen zu haben schienen.«
Er begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu wandern wie ein Tier im Käfig; bei jedem Schritt knarrten die von der Eiseskälte verzogenen Dielenbretter unter seinen Sohlen. Mehrmals setzte Davis an, etwas zu sagen, untermalt von ziellosen Gesten seiner Hände. Doch er brach jeden Versuch ab, noch ehe der erste Laut über seine Lippen kam, so als stürmten zu viele Gedanken auf einmal in seinem Kopf nach vorne und verlangten danach, in Worte gefasst zu werden. Als er sich endlich wieder gefangen hatte, blieb er stehen, blickte Lincoln ins Gesicht und fragte: »Warum? Warum teilen Sie dieses fürchterliche Geheimnis, das keinem Unbefugten je bekannt werden darf, ausgerechnet mit mir?«
»Um unermessliches Unheil zu verhindern«, klärte Lincoln ihn auf. »Seit dem Beginn dieses unseligen Krieges vergeht kein Tag, an dem ich nicht befürchte, die Konföderation könnte siegen und sich dann der Rückeroberung Preußisch-Karolinas zuwenden.«
»Aber dadurch würde doch kein einziger Artikel dieses Geheimabkommens gebrochen. Die souveränen Konföderierten Staaten sind nicht an eine Übereinkunft gebunden, die nur die Vereinigten Staaten betrifft«, wandte Davis ein.
Der Präsident schüttelte den Kopf. »Glauben Sie ernstlich, König Wilhelm würde diese feine Unterscheidung machen? Wenn er erfährt, dass Amerikaner in Karolina eingefallen sind, dann kann es für ihn nur eine Konsequenz geben.«
Lincoln trat an das kleine Fenster. Mit den Fingerspitzen rieb er die Schicht aus Reif und Staub ab, die das Glas bedeckte, und blickte hinaus auf die weiß erstarrte Landschaft. »Es ist wahr, viele Unterschiede trennen uns voneinander«, sinnierte er tiefgründig. »Doch wir alle blicken zu denselben Helden auf. Washington, Jefferson, Franklin sind für die Menschen im Norden ebenso wie für jene im Süden leuchtende Vorbilder, deren moralische Erhabenheit ihnen von Kindestagen an Richtschnur und Maßstab ihres eigenen Lebens ist. Strahlende Gestalten, durch keine Niedrigkeiten des Charakters befleckt. Alle unsere Institutionen fußen auf der moralischen Autorität ihrer Begründer. Und nun stellen Sie sich vor, was geschähe, wenn die Amerikaner die bittere Wahrheit erführen …«
»Allmächtiger! Unsere ganze Gesellschaft würde in ihren Grundfesten erschüttert!«
»Schlimmer noch. Sie würde zerbrechen«, korrigierte Lincoln mit verdüsterter Stimme und wandte sich wieder vom Fenster ab. »Und das unterschiedslos im Süden wie im Norden. Die Katastrophe käme mit gleicher gnadenloser Wucht über uns alle.«
Die Vision, dass seine gesamte Welt kollabieren könnte, zurückgelassen mit den Trümmern ihrer vernichteten Ideale, ohne Ziel, ohne Hoffnung, ließ Davis das Blut in den Adern gefrieren. Mit vom Schrecken gezeichneter Stimme brachte er mühsam einen Satz heraus: »Was kann ich tun?«
Auf diese Frage hatte Abraham Lincoln gehofft.
Pinkerton war erleichtert, als nach langer Zeit der Präsident endlich wohlbehalten aus der Mühle ins Freie trat und über die Brücke zurückkehrte. Und auch, dass sich ringsum keine verdächtigen Bewegungen zwischen Büschen und
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