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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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    »Sie sind erstaunlich bewandert, was die Lebensgeschichte meines Großvaters anbelangt«, fand der Major.
    Rebekka erhob sich aus dem Sessel und ging an den Kamin, hielt den Reifrock aber in respektvollem Abstand zum Feuer. Sie sah hinauf zu dem darüberhängenden firnisverdunkelten Gemälde des schwarzen Ehepaars. Im zuckenden Widerschein der Feuers wirkten der friderizianische Offizier und die Frau im Rokoko-Kleid beinahe lebendig. »Erstaunlich ist doch eher, dass so viele Menschen nicht mehr über ihn wissen, als die naiven Darstellungen in den Schullesebüchern erzählen«, sagte sie säuerlich. »Dabei erfordert es kein Übermaß an Vorstellungskraft, sich auszumalen, dass die Geschichte dieser Weltgegend ohne ihn einen anderen, gewiss nicht erfreulicheren Verlauf genommen hätte. Er war ein großer Mann, weit größer noch als Prinz Heinrich.«
    »Es ist kalt im Schatten eines Riesen«, murmelte Pfeyfer.
    Rebekka wandte sich zu ihm um. »Verzeihen Sie bitte, ich habe nicht verstanden.«
    »Nichts, Demoiselle, nichts«, wiegelte der Major rasch ab. »Lassen Sie uns doch bitte noch einmal den ersten Teil der Rede durchgehen. Ich möchte die Stellen verinnerlichen, an denen ich besonders auf der Hut sein muss.«

20. Dezember
Irgendwo im Norden Virginias
    Geschwind rollte die Kutsche durch den in winterlicher Einsamkeit liegenden Wald. Der Mann auf dem Kutschbock hatte sein Gesicht mit einem dicken Wollschal vermummt und den Bowler tief in die Stirn gezogen; nur seine Augen, die unentwegt wachsam nach allen Seiten spähten, waren noch sichtbar.
    Ein Knallen seiner Peitsche ließ die zwei Pferde schneller laufen. Aus ihren Nüstern quollen stoßweise dicke weiße Wolken, wenn sie ihren heißen Atem in die schneidend kalte Luft schnaubten.
    Der unberührte frische Schnee, der den Weg gut drei Zoll hoch bedeckte, verschluckte das Stakkato der Hufe und das Rumpeln der Räder. Übrig blieb nur ein gedämpftes Stampfen, das gespenstisch flach klang und sich ohne Nachhall in der umgebenden Stille verlor.
    Die Eskorte der Unionskavallerie, die Schutz vor umherstreifenden versprengten Konföderierten gewährleisten sollte, war befehlsgemäß eine halbe Meile entfernt zurückgeblieben. Man hatte den Soldaten nicht gesagt, wen sie überhaupt beschützten, und die Vorhänge der Kutsche waren die ganze Fahrt hindurch verschlossen geblieben. Der geheimnisvolle Passagier hatte sich allen Blicken entzogen.
    Langsam lichtete sich der Wald und ging in offene Landschaft über, die sich unter einem tief hängenden grauen Himmel duckte. Der Kutscher zügelte die Pferde und brachte sie bei einem nicht allzu breiten Fluss, über den eine krumme Holzbrücke führte, zum Stehen. Noch umgurgelte rasch dahinströmendes Wasser die Brückenpfeiler, doch entlang des flachen Ufers bildete sich bereits eine schartige Eiskante. In der Mitte des Flüsschens lag eine kleine Insel, die der Brücke als Trittstein auf dem Weg zur anderen Seite diente. Sie bot gerade genug Platz für eine alte Wassermühle, die schon lange nicht mehr in Betrieb war.
    Das Gebäude lag eingeschneit, das verrottende Mühlrad ragte unbewegt ins Wasser.
    Argwöhnisch sah der Kutscher hinüber zum gegenüberliegenden Flussufer , wo ein weiterer Wagen stand. Der Mann auf seinem Bock beobachtete das Eintreffen der Neuankömmlinge ohne wahrnehmbare Reaktion.
    »Also schön, da wären wir«, sagte der Kutscher zu sich selbst. Er zog den Schal hinunter und legte sein bärtiges Gesicht frei, dann stieg er ab. Noch einmal blickte er sich sorgfältig um. Allan Pinkerton, der Inhaber der größten und renommiertesten Detektivagentur der Welt, besaß ein Gespür für Hinterhalte. Dieser Ort aber schien ihm keine Gefahren zu bergen. Überzeugt, dass nicht mit unliebsamen Überraschungen zu rechnen war, öffnete er die Tür der Kutsche.
    »Wir sind angekommen, Mr. President«, teilte Pinkerton seinem Passagier mit.
    Abraham Lincoln nickte. »Ich danke Ihnen«, erwiderte er einsilbig und schickte sich an auszusteigen.
    »Ich halte es für ratsam, dass Sie zuvor Ihr Gesicht verbergen«, meinte der Detektiv. »Der andere Kutscher dort drüben würde Sie sonst erkennen.«
    Lincoln pflichtete ihm bei und schlug den Kragen seines Mantels hoch, so dass seine charakteristischen Züge verborgen waren. Dann entstieg er der Kutsche. Unter dem gesunden Arm trug er eine eiserne Schatulle, deren Deckel durch ein Schloss gesichert war.
    Er erinnerte den Detektiv nochmals, sich

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