Die Fahrt des Leviathan
keinen persönlichen Risiken auszusetzen, sollte ein Hinterhalt offenbar werden. Dann machte er sich auf den Weg über die Brücke.
Pinkerton blickte ihm nach. Diese ganze Inszenierung schmeckte ihm nicht, zu viele unnötige Gefahren lauerten in dem gottverlassenen Niemandsland zwischen den Fronten. Überhaupt fragte er sich, welchen Repräsentanten der Rebellenregierung Lincoln wohl zu treffen beabsichtigte und weshalb der Präsident selbst sich zu dieser heimlichen Zusammenkunft begab, anstatt einen vertrauenswürdigen, aber im Zweifelsfalle auch entbehrlichen Abgesandten zu schicken. Doch er wusste seine Neugier zu bezähmen. In seiner Branche stellte man nur Fragen, wenn man dafür bezahlt wurde.
Lincoln erreichte die Insel inmitten des Flusses. Von der anderen Seite her führten die frischen Fußspuren eines einzelnen Mannes zur Tür der Mühle. Ein letztes Mal atmete der Präsident tief durch. Er war bereit, den schwersten Gang seines ganzen Lebens anzutreten.
Da sein Arm die Schatulle hielt, trat er leicht mit der Schuhspitze gegen die Holztür. Im nächsten Moment tat sie sich knarrend auf und Lincoln trat in das Haus.
Jefferson Davis schloss die Tür hinter ihm sogleich wieder. Das Oberhaupt der Konföderation mochte sich keine Begrüßung abringen; über seine Lippen kamen nur die in kalter Distanziertheit gesprochenen Worte: »Nun, Sir. Da sind Sie also.«
»Wie Sie sehen, Sir«, entgegnete Lincoln. »Und ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie sich entschlossen haben, meinem Ansinnen um dieses Treffen zu entsprechen. Sie hätten hinreichend Grund gehabt, eine List zu vermuten.«
»In der Tat. Doch ging ich auch davon aus, dass Sie die Bedeutung meiner Person nicht in so törichter Weise überschätzen würden. Durch meine Festnahme oder gar Tötung hätten Sie nichts zu gewinnen. Die Konföderation würde ihren Kampf auch ohne mich fortsetzen, nur weit erbitterter als zuvor angesichts eines so niederträchtigen Akts«, gab Davis ihm zu verstehen. So leidenschaftslos er diese Worte auch aussprach, enthielten sie dennoch eine unterschwellige Drohung für den Fall, dass sich irgendwo am Flussufer doch eine Kompanie Kavallerie verborgen hielt und nur auf den geeigneten Moment wartete, ihn zu ergreifen.
Lincoln stellte die Eisenschatulle auf einem ungefügen alten Tisch ab und klappte den Mantelkragen herunter. »Was die möglichen Gefahren für meine Person angeht, Sir, so denke ich wie Sie. Aber ich verließ mich auch darauf, dass Ihre Ehre es Ihnen unmöglich machen würde, diese Begegnung zu nutzen, um meiner habhaft zu werden. Zu Recht, wie ich nun feststellen darf.«
»Da wir dies nun geklärt haben, möchte ich endlich erfahren, welchem Zweck dieses Treffen dienen soll«, sagte Davis ungeduldig. »Ich bin nicht so naiv anzunehmen, dass Sie mir einen Friedensvorschlag oder dergleichen unterbreiten wollen. Was also gibt es, das Ihrer Meinung nach nur zwischen uns beiden und unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit besprochen werden müsste?«
Unter seinem Mantel holte Lincoln einen Schlüssel hervor, der ihm an einer Kette um den Hals hing. »Falls die Konföderierten Staaten den Krieg für sich entscheiden, werden sie Ihrer Auffassung nach dann in absehbarer Zukunft Anspruch auf Preußisch-Karolina erheben?«, fragte er direkt.
Davis stutzte überrascht. Er schaute dem Präsidenten forschend ins Gesicht und erwiderte dann skeptisch: »Wieso wollen Sie das wissen?«
»Weil das zu einer Katastrophe führen würde, die Nord wie Süd gleichermaßen träfe. Eine Katastrophe, weit schlimmer als dieser schreckliche Krieg.« Lincoln schloss die Schatulle auf und hob ihren Deckel an. Im Inneren befand sich ein Kästchen aus poliertem Holz, das er ebenfalls öffnete. Darin lag, auf tiefrotem Samt, ein von blauen Seidenbändern zusammengehaltener Stapel Schriftstücke, deren leeres Deckblatt keinerlei Hinweis auf den Inhalt trug.
»Ich möchte Sie bitten, dieses Dokument sorgfältig zu lesen, Sir«, forderte Lincoln sein Gegenüber auf. »Seit den Tagen George Washingtons haben es nur fünfzehn Menschen zu Gesicht bekommen.«
Pinkerton verspürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Er war beileibe kein Mann, der schnell nervös wurde; das konnte er sich in seinem Beruf nicht leisten. Aber dies war auch kein gewöhnlicher Auftrag.
Nichts entging seinem Blick. Er behielt den Kutscher am anderen Ufer im Auge, die Mühle, die menschenleer scheinende Umgebung. Nichts rührte sich;
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