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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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vielleicht befand sich dort wirklich niemand, so wie der Präsident es erhofft hatte. Vielleicht aber lauerte hinter den verschneiten Büschen ein Dutzend Rebellen und wartete auf ein verabredetes Zeichen.
    Auf gar keinen Fall würde Pinkerton tatenlos zuschauen, wenn die Konföderierten versuchten, den Führer der Nation nach Richmond zu verschleppen. Feigheit war schlecht für das Geschäft. Außerdem wollte er auch weiterhin in den Spiegel sehen können, ohne Verachtung für den Mann zu empfinden, der ihm entgegenblickte.
    Pinkerton hauchte sich in die vor Kälte steifen Hände. Die ereignislos verstreichenden Minuten zerrten an seinen Nerven.
     
    »Oh Gott.« Jefferson Davis’ Gesicht war totenblass geworden. Mit offenem Mund starrte er auf das Dokument in seinen Händen. Er war so hilflos, wie ein Mann nur sein konnte, dem gerade zuvor die Grundlage aller seiner Ideale, ja seines gesamten Lebens mit einem Schlag unter den Füßen fortgebrochen war.
    Verwirrt blickte er von dem Schriftstück auf. »Sagen Sie mir um Himmels willen, dass nichts davon wahr ist!«, beschwor er Lincoln heiser.
    Doch der Präsident schüttelte bekümmert den Kopf. »Es ist wahr. Wort um Wort.«
    Davis fuhr zusammen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen. Er wankte und musste sich am Tisch abstützen , um nicht zusammenzubrechen. Vorsorglich nahm Lincoln ihm die kostbaren Papiere aus der Hand und legte sie zurück in die Schatulle.
    Der Präsident empfand tiefes Mitgefühl mit seinem Kontrahenten. Er wusste, was Davis in diesem Moment durchlitt. Ihm selbst war es nicht anders ergangen.
    Jedes amerikanische Schulkind lernte, dass George Washington und die anderen Gründerväter der Nation das Recht als unantastbar und heilig verehrt hatten. So groß war ihre Liebe zum Recht gewesen, dass sie schweren Herzens eher South Carolina den Preußen überließen, als ihre ehernen Prinzipien zu brechen. Unerträglich war ihnen die Vorstellung gewesen, einen Krieg zu führen, zu dem ihnen kein Gesetz und kein Schiedsspruch die Berechtigung gab. Das Opfer war groß gewesen, doch nie hatte die Welt eine würdevollere Demonstration politischer Tugend erlebt.
    Lügen, nichts als Lügen. Ein Konstrukt des Schwindels, in die Welt gesetzt allein, um die Amerikaner, ja die gesamte Welt zu täuschen.
    »Wie konnten sie das tun?«, ächzte Davis. »Dieses … dieses schmutzige heimliche Paktieren mit den Preußen! Wie konnten unsere Gründerväter sich nur auf ein derart widerwärtiges, ehrloses Geschäft mit ihren Feinden einlassen?«
    Bekümmert neigte Lincoln den Kopf und antwortete gedämpft: »So schwer es auch fällt, wir sollten Verständnis für sie aufbringen.«
    »Verständnis!«, rief Davis zornig aus. »Diese Männer, unsere großen Vorbilder, haben South Carolina auf beschämende Weise verschachert! Und Washington hat die dortigen Patrioten zynisch verraten, hat ihnen die Klinge in den Rücken gerammt! Dafür soll ich Verständnis haben?«
    »Ich gebe zu, dass auch ich mich damit schwertue«, bekannte Lincoln und schloss behutsam den Deckel der Eisenschatulle, bis das Schloss mit einem metallischen Klacken einrastete. »Die Freiheit der Vielen durch die Preisgabe der Wenigen zu erkaufen, in geheimer Übereinkunft mit den geschworenen Gegnern, und dieses Verhalten dann durch ein Gespinst von Verschleierungen und Irreführungen zu bemänteln – das würde jedem großen Mann zur Schande gereichen. Nur, dass unsere Gründerväter für uns nicht einfach nur große Männer sind, sondern Inbegriff von Aufrichtigkeit, Integrität und Prinzipientreue.«
    Davis’ Mimik ließ erahnen, was er durchmachte. Je länger er über die schrecklichen Enthüllungen nachdachte, desto mehr wurde er sich ihrer Tragweite bewusst. Fast traute er sich nicht zu fragen, nahm dann aber seinen Mut zusammen und sagte: »Wer hat Kenntnis davon?«
    »Dieses Dokument wird in einem streng bewachten Gewölbe in Washington aufbewahrt«, teilte Lincoln ihm mit. »Jeder neue Präsident wird am Abend vor der Amtseinführung von seinem Vorgänger dorthin gebracht und in das Geheimnis eingeweiht. Und die aus dem Amt Geschiedenen behalten, aus begreiflichen Gründen, ihr Wissen bis zu ihrem Ableben für sich. In Preußen wiederum ist nur der jeweilige König mit dem Inhalt der Papiere vertraut.«
    Jefferson Davis riss vom Schock getroffen die Augen weit auf. »Die Preußen wissen davon?«
    »Natürlich. Dieses Abkommen diente von Beginn an

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