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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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um Popularität, sondern folgen allein Ihren Überzeugungen. Das erkenne ich an. Ihren Forderungen nach Parlamentarismus und dergleichen kann ich jedoch nie im Leben anders als mit entschiedener Ablehnung begegnen«, meinte Pfeyfer. Seine Respektsbekundung war nicht geheuchelt. Zwar sah er in Rebekka Heinrich immer noch seine Gegnerin; aber er hatte gelernt, sie wie einen feindlichen Soldaten zu betrachten, dessen Hingabe an die Sache, für die er kämpfte, ebenso ehrenwert war wie die eigene. Dass die Sache selber falsch war, hatte dabei keine Rolle zu spielen.
    »Mein Gott, Herr Major!«, entfuhr es der Direktorin. »Es kann mit unserem Land doch nicht ewig so weitergehen! Denken Sie etwa, ich will Preußen Schaden zufügen?«
    Pfeyfers Blick schnellte zur öffentlichen Bedürfnisanstalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Im Schatten des pavillonartigen Häuschens hatte er eine Bewegung wahrgenommen und machte sich darauf gefasst, einen plötzlich aus seinem Versteck hervorspringenden Angreifer abwehren zu müssen.
    Dann aber stellte er fest, dass es sich nur um zwei Männer handelte, die in ein Gespräch vertieft waren. Genau genommen ließ die verfängliche Nähe der beiden zueinander keinen Zweifel, aus welchem Grunde sie zu dieser Stunde ausgerechnet den verschachtelten dunklen Eingang eines Pissoirs als Ort für eine Unterhaltung gewählt hatten. Angewidert rümpfte der Major die Nase. Eigentlich wäre es seine Pflicht gewesen, wegen des offenkundigen Verstoßes gegen den Paragraphen 143 einzuschreiten. Doch dann hätte er Rebekka Heinrich mit der Existenz von Widernatürlichkeiten konfrontiert, die zu schockierend für eine Dame waren. Als Ausweg blieb ihm nur, zähneknirschend so zu tun, als hätte er nichts gesehen, und seine Aufmerksamkeit eilig wieder der Direktorin zuzuwenden.
    »Nein, ich bin mir sicher, dass Sie aufrichtig Gutes bewirken wollen. Doch der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Absichten. Heute allerdings bereiteten mir Ihre Worte weniger Sorge als die Haltung, die ich bei einem Teil des Publikums feststellen musste.«
    »Und bei welchem Teil?«
    »Jenen unter den Weißen, die Karolina lieber heute als morgen von Preußen loslösen und sich der Baumwolle wegen willfährig bei der Konföderation anbiedern würden«, antwortete Pfeyfer und fügte pessimistisch hinzu: »Die Hälfte der weißen Bevölkerung stünde jubelnd am Straßenrand, wenn die Südstaaten tatsächlich in Karolina einmarschierten.«
    Rebekka stutzte. »Solcher Fatalismus aus Ihrem Munde? Sie hätten sich früher niemals so mutlos geäußert.«
    »Weil ich bisher nicht sehen wollte, wovor ich nun nicht mehr die Augen verschließen kann«, gestand der Major. »Vor noch nicht langer Zeit warnte Präsident Lincoln mich vor den Gefahren, die Karolina durch eine siegreiche Konföderation drohten. Damals habe ich seine Befürchtungen nicht ernst genommen. Mittlerweile sehe ich, wie recht er hatte.«
    Pfeyfer machte einen Schritt seitwärts, damit die Direktorin einer Pfütze auf dem Trottoir ausweichen konnte, sprach dabei aber ohne Unterbrechung weiter: »Jeden Tag erreichen mich mehr Meldungen, die mir drastisch zeigen, wie die Provinz innerlich zerfällt. Irgendwann kommt vielleicht der Moment, da die Konföderierten die verlockende Gunst der Umstände nutzen und Karolina wie eine reife Frucht pflücken. Viele, nicht nur Männer wie Weaver, würden die einmarschierenden Südstaatler freudig willkommen heißen. Dann nützt auch der neue Mobilmachungsplan des Kronprinzen nichts. Danach aber … danach helfe Gott uns allen.«
    »Nun bin ich es, der Ihnen Anerkennung zollen muss«, meinte Rebekka. »Sie haben etwas erkannt, für das den allermeisten unserer Mitmenschen nach wie vor die Einsicht fehlt. Das macht Sie gewissermaßen zu meinem Verbündeten.«
    »Oh nein, ganz sicher nicht!«, wies Pfeyfer diese Behauptung entschlossen zurück. »Verbündete, verehrte Demoiselle Heinrich, müssen nicht nur gegen denselben Feind kämpfen, sondern auch für dasselbe Ziel. Daher werde ich niemals Ihr Alliierter sein.«
    Sie bogen um die letzte Straßenecke vor der Schule; vor ihnen tauchte der wuchtige Gebäudekomplex auf. Das harte Licht der Gaslaternen auf der roten Ziegelfassade ließ scharfkantige Schatten in jeder Fuge und jeder der dunklen Fensteröffnungen wachsen. Pfeyfer brachte die Direktorin bis zum Seiteneingang des Wohntrakts.
    »Sie nehmen meinetwegen wirklich große Mühen auf sich«, sagte Rebekka, während

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