Die Fahrt des Leviathan
sie die Tür aufschloss. »Vielleicht möchten Sie uns zur Abwechslung morgen auf den Weihnachtsmarkt begleiten?«
»Bedauerlicherweise bin ich morgen verhindert. Doch ich danke Ihnen für die Einladung und wünsche Ihnen ein angenehmes Weihnachtsfest«, entgegnete Pfeyfer. Er verabschiedete sich von der Schuldirektorin und wartete noch, bis sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Dann erst fiel die Anspannung von ihm ab. Weshalb er sich die ganze Zeit so eigenartig unruhig gefühlt hatte, war ihm völlig unklar. Schließlich hatte er schon erheblich gefährlichere Situationen weit gelassener durchstanden. Auf jeden Fall aber verspürte Pfeyfer eine gewisse Erleichterung. Er atmete auf und begab sich auf den Weg nach Hause.
23. Dezember
Über viele Jahre war der Friedrichsburger Weihnachtsmarkt eine Institution gewesen. Einheimische wie auch Amerikaner, die ihren Winteraufenthalt in Karolina genommen hatten, waren stets in großer Zahl zu der festlich dekorierten Budenstadt geströmt, die in der letzten Woche vor dem Christfest den sonst in strenger Würde erstarrten Prinzenplatz in ein von heimeligen Lichtern erleuchtetes kleines Traumreich verwandelte, in dem es nach Pfefferkuchen, Zimt und Glühwein duftete.
Im vorherigen Jahr dann hatte der amerikanische Bürgerkrieg einen ersten Schatten auf das Vergnügen geworfen. Ohne die reichen Neuengländer, die sonst mit großer Begeisterung die ihnen exotisch erscheinenden Erzeugnisse der karolinischen Kunsthandwerker erwarben und sich reichlich mit weihnachtlichen Spezialitäten nach deutschen Rezepten eindeckten, war der Geldbeutel so manchen Händlers bedrückend leicht geblieben. Zum diesjährigen Markt sahen die Dinge noch trostloser aus, da jetzt auch viele Karoliner keinen Groschen und keinen Pfennig mehr zu entbehren hatten. Zwar fand der Weihnachtsmarkt fast im gewohnten Umfang statt, doch die trübe Stimmung war allgegenwärtig spürbar.
Das aber hatte die Lehrerinnen der Töchterschule nicht von ihrem Bummel abgehalten. Rebekka Heinrich und Carmen Dallmeyer waren an einem Stand mit Backwerk zurückgeblieben, wollten aber rasch nachkommen. Amalie und Täubrich gingen untergehakt Arm in Arm; Healey trottete neben ihnen her, gute Miene zum bösen Spiel machend. Sein Lächeln war eine mühselig aufrechterhaltene Maske, hinter der er sein verfinstertes Gemüt verbarg.
Wie hatte er darauf gehofft, dass Fräulein von Rheine dieses Arztes überdrüssig würde. So sehr hatte er den Moment herbeigesehnt, in dem er endlich eine Chance erhielt, ihr seine tief empfundene Hingabe zu gestehen. Aber es sah nicht danach aus, als ob er diese Chance je erhalten würde. Stattdessen musste er ertragen, wie sie mit dem Doktor stets und ständig verliebte Blicke austauschte und beide sich in allerlei neckischen Tändeleien ergingen. Dabei war ihm jedes Mal, als würde ihm ein rot glühender Schürhaken durchs Herz gestoßen. Entkommen konnte er dieser Tortur nicht. Er nahm den Schmerz auf sich, um in Amalies Nähe sein zu können, sie zu sehen, ihre Stimme zu hören. Und sich weiterhin der nebelhaften Hoffnung hinzugeben, dass vielleicht doch noch seine Stunde kam, wenn er sich nur gedulden konnte.
Sie erreichten eine bunte Zeltbude, durch deren geöffnete Vorhänge man in das Innere blicken konnte. Vor einem schwarzen Stoffhintergrund voller aufgeklebter Sterne stand dort eine gut sieben Fuß hohe Mondsichel aus Holz, die ein gemütlich schmunzelndes Gesicht trug. Eine davor platzierte Kamera wurde gerade von einem Photographen mit einer neuen Platte bestückt. Das Schild über dem Eingang verhieß:
Enchanting Man-in-the-Moon Photographs,
ergänzt durch eine zusätzlich angebrachte Tafel mit den deutschen Worten:
Photographische Bildnisse mit dem Mann im Monde.
Amalie hielt inne, betrachtete interessiert den großen Mond und erkundigte sich bei Healey, worum es sich handelte. Der Südstaatler, der sich sonst niemals an Vergnügungsstätten begab, musste verlegen eingestehen, dass er es nicht wusste. Seine Beschämung verwandelte sich in heimliche Wut, als statt seiner ausgerechnet Täubrich die Antwort parat hatte.
»Ich hörte davon. Eine neue Attraktion, die bei Amerikanern sehr beliebt sein soll«, erklärte er. »Liebespaare lassen sich auf der Sichel sitzend photographieren. Auf dem Bild sieht es aus, als würden sie mit dem Mond am Nachthimmel schweben.«
»Oh, wie romantisch! Wir wollen so ein Photo machen lassen, Georg. Es ist eine zauberhafte Idee«,
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