Die Fahrt des Leviathan
schwärmte Amalie sogleich.
Der Arzt ließ sich nicht lange bitten und ging zu dem Photographen, um seine Wünsche zu äußern. Amalie wandte sich derweil Healey zu.
»Ich hoffe, Sie sind nicht gekränkt, wenn wir Sie für einige Minuten warten lassen. Sehen Sie es mir nach, mein lieber Alvin?«, fragte sie.
Healey verschluckte sich um ein Haar, weil Amalie ihn beim Vornamen genannt hatte. »Aber ja, bitte machen Sie sich deswegen doch keine Gedanken«, entgegnete er beflissen. »Ich warte gerne, es macht mir nichts aus.«
Die Lehrerin dankte ihm für sein Verständnis und begab sich dann gleichfalls in das Zelt.
Gerade noch konnte Healey verfolgen, wie sie sich mit Täubrich auf der Mondsichel niederließ, dann schloss der Photograph die Vorhänge. Im gleichen Augenblick verschwand das Lächeln aus Healeys Gesicht und wich einem Ausdruck haltloser Verzweiflung. Er drehte sich herum, um wenigstens nicht in Richtung des Zeltes schauen zu müssen. Dabei sah er Rebekka und Carmen auf ihn zukommen, in den Armen gewaltige Papiertüten voller Pfeffernüsse und gebrannter Mandeln. Er beeilte sich, seine wahren Empfindungen wieder hinter einer Fassade imitierter Fröhlichkeit verschwinden zu lassen.
* * *
Wilhelm Pfeyfer salutierte nicht militärisch, wie es am Grab eines Soldaten eigentlich Brauch war, sondern nahm die Uniformmütze ab. Das erschien ihm als die passendere Geste für einen Mann, der seit Kindheitstagen sein Freund gewesen war.
Niemand sonst hatte sich an diesem späten Nachmittag auf den Erlöserfriedhof vor der Stadt verirrt. Die schnurgeraden Kieswege zwischen den langen Gräberreihen waren menschenleer. Hier und dort flackerten auf einzelnen Grabstätten kleine Öllämpchen, die Trauernde früher am Tag aufgestellt hatten und die sich in der weit vorangeschrittenen Dämmerung wie verirrte Glühwürmchen ausnahmen.
Pfeyfer war nicht gekommen, um mit seinem toten Freund Zwiesprache zu halten. Für derartige morbide Hirngespinste fehlten ihm Sinn und Verständnis.
Was sollte ich Fritz auch erzählen?,
dachte er.
Dass ich seinen feigen Mörder noch immer nicht fangen konnte? Meine Unfähigkeit eingestehen? Ihn um Vergebung bitten? Oder ihn anflehen, mich nicht mehr in meinen Träumen heimzusuchen?
Denn immer noch erschien Heinze ihm des Nachts, immer noch erwachte er schweißgebadet von den verstörenden Traumgeschichten. Doch der Major war Realist. Er wusste genau, dass diese Albträume keine Vorwürfe aus dem Totenreich darstellten. Sie waren der Spiegel dessen, was er selbst in sich trug. Darum hatte es auch keinen Sinn, seinen ermordeten Freund um Pardon anzuflehen. Pfeyfer war klar, dass es allein in seinen Händen lag, ob er je wieder ohne Furcht vor den Bildern, die aus den Tiefen seines Geistes aufstiegen, zu Bett gehen konnte.
Seinen Mörder finden. Die Hintermänner finden. Natürlich, aber wie? Ohne Fritz’ anonyme Hinweise bin ich aufgeschmissen. Ich erfahre nichts mehr über die Absichten der NeitherNors. Sind sie plötzlich und grundlos in Untätigkeit verfallen? Oder ist es nur meine Blindheit? Was läuft verkehrt, was?
Sinnierend betrachtete Pfeyfer den Grabstein, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
Er fror; es musste am Wind liegen, dessen war er sich ganz gewiss. Er wollte sich dessen gewiss sein.
Mit einem Mal ertappte er sich bei einem seltsamen Gedanken. Er wünschte sich für einen Augenblick, Rebekka Heinrich wäre da und lenkte ihn durch ihre bloße Anwesenheit von seinem Trübsinn ab.
Bin ich noch bei Trost? Ausgerechnet die Gesellschaft dieser eigensinnigen Frau! Wie komme ich auf so etwas?
Es musste, vermutete er, an der merkwürdigen Atmosphäre des Friedhofs liegen, die seinem Verstand wohl nicht bekam und ihn zu abstrusen Fehlgriffen zu verleiten begann. Offenbar war es an der Zeit zu gehen.
Pfeyfer setzte die Mütze wieder auf und machte sich auf den Weg. Es war spät geworden, er konnte bereits die Abendglocken der Kirchen hören.
* * *
Das Büro lag in grauem Halbdunkel, als Healey zurückkehrte. Durch das verstaubte Fenster fiel von der Straße her der Schein einer Laterne und zeichnete auf die Bodendielen die Schattenkonturen der auf das Glas gemalten Worte:
Richmond-Handelsgesellschaft.
Healey begab sich zu seinem Schreibtisch, den er gerade noch als Schemen erahnen konnte, und ertastete den Hahn des Gasleuchters an der Wand. Er drehte ihn ein wenig; sobald das Zischen hörbar wurde, entzündete er mit einem Streichholz eine Flamme, die
Weitere Kostenlose Bücher