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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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blieb, sie wissen.
    »Doppelt?«, wunderte sich die Direktorin, während sie ihre Handtasche nach dem Schlüssel absuchte.
    »Einmal, weil Sie sich der prekären Situation in Pagot so erfolgreich angenommen haben. Und dann, weil Sie mich davor bewahrt haben, einen Fehler zu begehen. Ohne Ihr Einschreiten hätte ich Bob Prinz festgenommen. All meinen berechtigten Skrupeln zum Trotz bin ich froh, dass es anders kam.« Mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete er sich und stieg wieder in die Droschke, wobei er dem Kutscher noch seine Adresse zurief, ehe er den Wagenschlag hinter sich zuzog.
    Rebekka sah der davonrollenden Droschke nach, bis sie zwischen den Schleiern aus Dunkelheit und Regen verschwand.
Er schafft es doch tatsächlich, mich zu frappieren,
ging es ihr durch den Kopf.
Und ich glaubte, ihn längst ganz und gar zu kennen. Rebekka, du bist ein Dummerchen.
    Dann entdeckte sie in ihrer Handtasche endlich den Schlüssel. Sie konnte es kaum erwarten, ins warme Bett zu fallen.

27. Dezember
    Noch wenige Monate zuvor hatte Captain Augustus Hendricks im unangefochtenen Ruf gestanden, der bestaussehende Kriegsheld der Konföderation zu sein. Im gesamten Süden pflegten Damen beim Anblick seines Bildnisses verzückt zu seufzen. Diejenigen, die ihm bereits persönlich begegnet waren, wurden nicht müde, ihren neiderfüllten Geschlechtsgenossinnen zu versichern, wie wenig selbst die beste Photographie seiner vollendeten Gestalt gerecht wurde und dass ohnedies kein noch so brillantes Portrait seinen unwiderstehlichen Charme zur Geltung zu bringen vermochte. Auch die Männerwelt bewunderte Hendricks über alle Maßen, wenn auch nicht unbedingt seiner wallenden kastanienbraunen Haarpracht und der tiefschwarzen Augen wegen. Ihr Augenmerk galt den schmerzhaften Hieben, die der Captain der CSS
Pericles
den Yankees auf dem Ozean versetzte.
    Zweiundfünfzig große Handelsschiffe der Nordstaaten hatte Hendricks auf den Grund des Atlantiks geschickt, mit der US-Marine unentwegt Katz und Maus gespielt und seinen Verfolgern ein ums andere Mal mit draufgängerischen Manövern ein Schnippchen geschlagen. Überall in den Südstaaten sprach man voller Begeisterung davon, wie der Captain mit seiner wendigen Dampfkorvette die tumben Yankees demütigte. Niemals, so die allgemeine Überzeugung, würden sie dem gerissenen
Rebel Shark
Hendricks beikommen können.
    Bis er im Mai die Bahamas angelaufen hatte, um seine Kohlevorräte aufzufüllen, und ihn vor dem Hafen von Nassau eine Fregatte der Nordstaaten erwartete. Gleich die erste Granate war nur wenige Fuß neben ihm explodiert. Von der Druckwelle zu Boden geschleudert, hatte er das Bewusstsein verloren. Als er wieder aus der Ohnmacht erwachte, schleppte sich die übel zusammengeschossene
Pericles
in Richtung Mobile, gerettet allein durch die hereinbrechende Nacht. Doch das wusste er nicht. Er lag in einer blutdurchtränkten Koje und musste mit einem Lederriemen zwischen den Zähnen ertragen, wie ihm der Schiffsarzt mit einer Säge zertrümmerte Gliedmaßen abtrennte.
    Wer Augustus Hendricks nun sah, wurde unweigerlich von Angst und Schrecken gepackt.
    So erging es auch der Mannschaft der
Great Eastern,
die vollzählig auf dem Achterdeck angetreten war, um ihren neuen Kapitän in Empfang zu nehmen. Selbst die hartgesottensten unter den Offizieren, Matrosen, Heizern und Maschinisten starrten bleich auf den Mann, dem sie von nun an zu gehorchen hatten.
    Die linke Hälfte seines Gesichts war eine grauenvolle Fratze aus vernarbtem Fleisch. Die scharfkantigen Splitter der Granate hatten kaum etwas übrig gelassen, was an ein menschliches Antlitz erinnerte. Das Ohr war ebenso verschwunden wie die Nase, der Mundwinkel klaffte offen und entblößte die verbliebenen Zähne. Wenige schüttere Haarbüschel ragten zaghaft aus dem Narbengeflecht hervor. Wie durch ein Wunder war das Auge erhalten geblieben. Es lag tief in einer Augenhöhle, die von einer formlosen Masse aus verwachsenen Hautresten umgeben war.
    Hendricks trug den mit zwei Reihen blanker Messingknöpfe besetzten stahlgrauen Gehrock konföderierter Seeoffiziere; der leere linke Ärmel war hochgeschlagen. Die Hose verhüllte nur den kurzen Stumpf des linken Beins, darunter lag die festgeschnallte hölzerne Prothese bloß. Seine graue Schirmmütze hing schräg auf dem Kopf, denn es gab auf einer Seite nichts mehr, was sie gerade halten konnte.
    Die nicht zerstörte rechte Hälfte seines Gesichts war in einem Ausdruck gefühlloser

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