Die Fahrt des Leviathan
Südspitze der Unterstadt zu begeben. Er wollte sich unauffällig und aus sicherer Distanz einen Eindruck von den Vorgängen auf dem Schiffskoloss verschaffen.
Die pünktliche Ankunft des neuen Kapitäns hatte er aufmerksam verfolgt, ebenso das präzise choreographierte Ballett der Lastkähne, die pausenlos Baumwollballen heranbrachten, an den ihnen zugewiesenen Positionen zu beiden Seiten der
Great Eastern
festmachten und geschwind mit den Dampfkränen entladen wurden, um sodann schleunigst wieder abzulegen und ihre Plätze für die gleich darauf nachfolgenden Barken zu räumen. Die genauestens aufeinander abgestimmten Prozeduren liefen mit der erfreulichen Fehlerlosigkeit eines meisterhaft gearbeiteten Schweizer Uhrwerks ab. Kolowrath hatte keinen Anlass, unzufrieden zu sein.
Von den Lastbarken und den nimmermüde schwenkenden Kränen ließ er den Blick zum Heck des Schiffes wandern. Dort saßen zwei Maler auf einem an Seilen herabgelassenen langen Holzbalken. Sie hatten die Worte
GREAT EASTERN
bereits am Tag zuvor vollständig unter schwarzer Farbe verschwinden lassen. Nun waren sie dabei, den neuen Namen des Schiffes in drei Fuß hohen weißen Buchstaben aufzumalen.
LEVIATH
hatten sie bereits fertiggestellt; bis zur Mittagsstunde würden sie ihre Arbeit vollendet haben.
Kolowrath setzte das Binokular ab und schüttelte abschätzig den Kopf. Für Spielereien dieser Art fehlte ihm jegliches Verständnis. Doch er hatte seinen Verbündeten auch nicht die naive Freude verderben wollen und sich daher über die symbolschwere Umbenennung des Schiffes voll des Lobes geäußert. Diplomatie war letztlich nie etwas anderes als gekonnt dosierte Heuchelei.
Der Österreicher befand, genug gesehen zu haben. Er verstaute das Fernglas im zugehörigen Lederfutteral, setzte die Brille wieder auf und machte sich auf den Rückweg. Während er ohne Hast die Uferpromenade entlangschlenderte, kalkulierte er in Gedanken seine nächsten Schritte. Da sich sein Plan so exzellent entspann, würde die neu getaufte
Leviathan
ohne Zweifel wie vorgesehen ihre Fahrt nach Hamburg antreten. Somit war es an der Zeit, eine Reihe essentieller Vorbereitungen in die Wege zu leiten, die von maßgeblicher Bedeutung für sein Konzept waren. Und er musste einen Bericht an seine Vorgesetzten im fernen Europa senden, in dem er den bisherigen Verlauf der Dinge umriss. Für gewöhnlich verabscheute er solcherlei bürokratische Ungelegenheiten, aber dieser Rapport würde ihm eine gewisse Genugtuung verschaffen. Schließlich konnte er darauf hinweisen, dass einer der Hauptzweifel an seinem Projekt sich als absolut unbegründet erwiesen hatte. Nichts deutete darauf hin, dass die Nordstaaten, die karolinischen Neger oder sonst eine Partei, die Interesse daran haben konnte, der Konföderation keinerlei Erfolg zu gönnen, irgendwelche Machenschaften schmiedeten, die das Vorhaben gefährden konnten. Den bis dato einzigen derartigen Versuch hatte Major Pfeyfer ja mit Bravour zu einem schnellen Ende gebracht, wenn auch befremdlicherweise unter Einsatz ausgerechnet einer lautstarken Widersacherin der Südstaaten.
Normalerweise bediente Kolowrath sich bei allen Operationen seines perfekt eingespielten Apparates von Spitzeln, die ihn schon im Vorfeld über jegliche unwillkommenen Geschehnisse in Kenntnis setzten und nötigenfalls auch mit handfesten Mitteln Störfaktoren beseitigten, um die störungsfreie Verwirklichung seiner ausgefeilten Dispositionen zu sichern.
Diesmal freilich waren die Umstände weniger günstig, da er sich in erster Linie auf den Major als nichtsahnendes Werkzeug stützen musste. Jedoch war der Kommandeur des Militär-Sicherheits-Detachements so effizient und verlässlich, dass keine bösen Überraschungen zu befürchten waren. Und da Pfeyfer dem mit so eindrucksvollen Referenzen ausgestatteten vermeintlichen Geheimpolizisten Krüger pflichtgetreu reichlich Auskünfte zukommen ließ, wusste Kolowrath sich zudem bestens informiert über jegliche relevanten Geschehnisse in der Provinz.
Andererseits – bin ich wirklich so gut informiert?,
fragte sich Kolowrath. Er blieb zu Füßen der Statue von Immanuel Kant stehen und strich sich sinnierend über den Schnurrbart. Waren Pfeyfers Berichte nicht seit geraumer Zeit eigenartig nichtssagend? Wenn er genauer darüber nachdachte, schienen ihm die Rapporte ganz und gar aus Belanglosigkeiten zu bestehen, ausführlich und detailreich ausgebreitet. Ganz so, als wollte Pfeyfer sichergehen, möglichst keine
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