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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Porzellan unwiderruflich zerschlagen ist. Und wir beide stehen am Ende alleine da.«
    Amalie hielt ein Taschentuch in Händen, da sie nicht wusste, ob sie die Tränen würde zurückhalten können. »Georg soll mir nie wieder unter die Augen treten. Diese – diese Rücksichtslosigkeit! Ich will ihn nie wiedersehen«, sagte sie gepresst.
    Die beiden Frauen saßen in Rebekkas Arbeitszimmer beieinander; sie waren der Feier entflohen. Keiner von beiden war danach zumute gewesen, die Fröhlichkeit der Anwesenden ertragen zu müssen.
    »Nie wieder?«, erkundigte sich die Direktorin, als wollte sie Amalie dazu verleiten, die Entschiedenheit dieser Aussage abzumildern.
    »Nie«, erwiderte die Lehrerin eindeutig. Sie führte das Taschentuch näher an die Augen.
    Ein zaghaftes Klopfen drang durch die Tür, gefolgt von Carmen Dallmeyers vorsichtig von draußen geflüsterter Frage: »Ich möchte nicht stören … Soll ich den Gästen einfach sagen, dass Sie sich nicht wohlfühlen, Amalie?«
    Nur kurz überlegte Amalie von Rheine. Dann erhob sie sich vom Stuhl, richtete den Reifrock und blickte Rebekka traurig, doch selbstbeherrscht an. »Kommen Sie, lassen Sie uns gehen«, sagte sie matt. »Wir wollen mit den anderen auf das neue Jahr anstoßen. Wünschen wir uns, dass es besser wird, als das alte endet.«
     
    * * *
     
    Mit hängendem Kopf schlich Georg Täubrich durch die nächtlichen Straßen. Ihm war hundeelend zumute. Was sollte, was konnte er tun? Jeden Tag an Amalie von Rheines Tür klopfen, um auf Knien ihre Vergebung zu erflehen? Er hätte das ohne Zaudern getan, hätte er hoffen dürfen, damit etwas zu bewirken.
    Doch er wusste, dass es sinnlos wäre. Er hatte Amalie zu sehr verletzt, als dass sie ihm einfach verzeihen konnte.
    Zu Täubrichs Verzweiflung gesellte sich gallenbitterer Selbsthass. Er hätte sich am liebsten selbst mit Faustschlägen traktiert für seine Dummheit.
Wie konnte ich Idiot bloß so etwas zu ihr sagen?,
fragte er sich wieder und wieder.
Ich wusste doch, dass sie stolz ist, Lehrerin zu sein. Warum konnte ich nicht mitdenken? Wieso war ich so dumm, so unsagbar dumm?
    Aus einem Lokal auf der anderen Seite der Straße drangen Fetzen von Musik herüber, durchmengt mit dem Stimmengewirr ausgelassen feiernder Menschen. Täubrich versuchte, die Geräusche zu ignorieren. Jeglicher Frohsinn war ihm zuwider, ekelte ihn regelrecht an. Schnell ging er um die nächste Häuserecke, um dem misstönenden Lärm zu entkommen.
    Als er in die Straße bog, schlug ihm ein Windstoß entgegen. Kalt wehte er von der Bucht her die schnurgerade Allee hinauf. Der Geruch von stehendem Brackwasser und Hafen drang Täubrich in die Nase.
    Und auf einmal wusste er, was er zu tun hatte. Wollte er überhaupt eine Chance haben, Amalies Wohlwollen zurückzugewinnen, blieb ihm nur ein Weg. Er musste sich ihren Respekt neu verdienen. Er würde an Bord der
Leviathan
sein, wenn sie den Hafen verließ. Und er würde dafür sorgen, dass sie der Konföderation keinen Nutzen brachte. Auch die gewaltige
Leviathan
war letztlich nur ein Schiff und jedes Schiff konnte man mit dem nötigen Wissen und ein wenig Entschlossenheit zum Sinken bringen.
    Aber nicht zu früh. Erst wollte er in Hamburg herausfinden, welche Ladung sie dort tatsächlich an Bord nahm. Waren es Waffen, würde er Amalie und die Direktorin darüber in Kenntnis setzen. Derartige Informationen konnten ihnen sicher von Nutzen sein, um die Südstaaten der dreisten Lüge zu überführen und dadurch die Sympathien zu schmälern, die sie bei Teilen der weißen Bevölkerung genossen. Auf der Rückfahrt dann müsste er den geeigneten Moment abpassen, um die
Leviathan
auf den Grund des Ozeans zu schicken. Denn was immer sie in ihren Laderäumen trug, diente letztlich den Kriegsanstrengungen der Konföderierten.
    Mit ein wenig Glück gelingt mir das alles,
dachte Täubrich.
Und mit noch etwas mehr Glück überlebe ich es sogar.
    Von ferne erscholl von einem Kirchturm der erste von zwölf Glockenschlägen. Fast gleichzeitig zerplatzte am schwarzen Himmel die erste Feuerwerksrakete in einem gleißenden Funkenregen. Die Glocken der gesamten Stadt stimmten ein, ihr Läuten vermischte sich mit dem Zischen und Knallen der Feuerwerkskörper, die nun ringsum aufstiegen und die Nacht in bunt flackerndes Licht tauchten.
    Täubrich blickte empor, fühlte sich jedoch an Seenotraketen erinnert. Unwillkürlich wandte er den Blick wieder auf das Trottoir und beeilte sich, seinen Weg fortzusetzen.

2.

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