Die Fahrt des Leviathan
Januar 1863
»Nun sind Sie im Bilde darüber, was morgen der
Leviathan
widerfahren wird«, schloss Major Pfeyfer seine knapp und präzise gehaltenen Ausführungen ab. »Haben Sie noch Fragen, Demoiselles?«
Er blickte Rebekka und Amalie an, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches standen. Vor ihnen ausgebreitet lag eine Karte, auf der unter anderem die Bastion Derfflinger und die unweit der Küstenfestung verlaufende Fahrrinne eingezeichnet waren. Die Tür zu Rebekkas Bibliothek, in der die abendliche Unterredung stattfand, war geschlossen und verriegelt. Zwar befand sich niemand sonst im Wohntrakt der Schule, denn Carmen Dallmeyer besuchte Verwandte in Oranienburg und das Hausmädchen Gerda war an seinem freien Abend ausgegangen. Doch der Major hatte nichts Vertrauliches besprechen wollen, ohne dass der einzige Zugang zum Raum sicher versperrt war.
»Ja Willi, eine Frage habe ich«, entgegnete die Direktorin und erwiderte seinen Blick mit durchdringender Direktheit. »Bist du dir auch wirklich sicher, dass du das tun willst?«
Überrascht runzelte Pfeyfer die Stirn. »Selbstverständlich. Aber das weißt du doch.«
»Es hätte ja sein können, dass ich im Irrtum war«, meinte Rebekka und klang dabei, als müsste sie resignierend von einer schattenhaften Hoffnung Abschied nehmen. Überhaupt konnte sie nur unzureichend verbergen, wie niedergeschlagen sie war. Nichts vermochte sie aufzumuntern, nicht einmal die von Lincoln verkündete Sklavenemanzipation, die am Tag zuvor in Kraft getreten war. Seit dem Spätsommer hatte sie fest angenommen, der Januar würde für sie wegen dieses Ereignisses ein Monat ungetrübten Hochgefühls werden. Aber nun fühlte sich Rebekka Heinrich davon merkwürdig unberührt.
Pfeyfer stellte das kleine Holzschiffchen, mit dem er den Kurs der
Leviathan
auf ihrer letzten Fahrt dargestellt hatte, beiseite und rollte die Karte wieder zusammen. »Niemand wäre glücklicher als ich, sollte das Schiff durch höhere Gewalt sinken, ehe es die Bastion passiert«, meinte er dabei nüchtern. »Doch eine Intervention Gottes ist unwahrscheinlich. Somit liegt die Verpflichtung zum Eingreifen bei mir, dem Einzigen, der sowohl willens als auch fähig ist, etwas zu bewirken.«
Amalie nahm das einfache Schiffsmodell, kaum mehr als ein Holzstück mit einem Zahnstocher als Mast, drehte es zwischen den Fingern und wandte sich dann an Pfeyfer: »Herr Major, eine Sache, die mir keine Ruhe lässt … Was geschieht mit den Menschen an Bord?«
»Nun, die Menschen …« Unschlüssig brach Pfeyfer seinen kaum begonnenen Satz ab. Seine Miene trübte sich; ihm war anzumerken, dass er diesen Teil der kommenden Ereignisse am liebsten aus seinem Kopf verdrängt hätte. Mit aufeinandergepressten Lippen überlegte er einige Sekunden, und als er schließlich zum Weitersprechen ansetzte, klang er fahl und elegisch: »Wenn die Granate wie beabsichtigt im Kesselraum detoniert, gerät höchstwahrscheinlich die Baumwolle, vielleicht auch die Kohle, in Brand. Dann verwandelt sich das Schiff rasend schnell in eine Flammenhölle. Und –«
Er stockte. Seine Zunge versagte ihm den Dienst, als er die logische Konsequenz aus diesen Faktoren darlegen wollte.
Amalie hatte aber verstanden und sprach bedrückt aus, was der Major nicht herausbrachte: »Es wird viele Tote geben. Ist es das, was Sie befürchten?«
Pfeyfer nickte langsam. »Ja. Und Gott weiß, mir graut schon jetzt vor den Torturen, die mir mein Gewissen deswegen bis ans Ende meiner Tage bereiten wird.«
Die Arme vor der Brust verschränkt, als ließe sie ein unerwarteter kalter Luftzug frösteln, bemühte Rebekka sich um Fassung. »Selbst diese Furcht, selbst die Aussicht auf zahlreiche Todesopfer, kann dich nicht mehr bewegen, von deinem Vorhaben abzurücken?«
»Ich bin immer von ganzem Herzen Soldat gewesen«, erwiderte Pfeyfer. »Und ein Soldat muss bereit sein, in Erfüllung seiner Pflicht zu töten und die daraus resultierenden Gewissensnöte in Demut auf sich zu nehmen. Meine – meine Hoffnung ist nur, dass ich nie so tief sinke, diese Aussicht gleichgültig hinzunehmen. Denn stumpft ein Soldat so sehr ab, dass er ohne innere Erschütterung zu töten vermag, unterscheidet ihn nichts mehr von einem gewöhnlichen Mörder.«
»Von diesem Punkt sind Sie unendlich weit entfernt«, versicherte ihm Amalie. Sie empfand Mitgefühl für den Major. Er litt sehr, das spürte sie. Fast schien es ihr, als würde sie durch ihr eigenes Leid in den Stand
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