Die Fahrt des Leviathan
Irrenhaus ein, wenn dem Gericht seine Tat wie die Ausgeburt eines deformierten Geistes erschien. Auf jeden Fall würde er nie wieder ein freier Mann sein, darüber gab er sich keiner Selbsttäuschung hin.
Trotzdem würde er keinen Zollbreit von dem einmal eingeschlagenen Weg abweichen. Es existierte keine Alternative zur Vernichtung der
Leviathan.
Und niemand außer ihm vermochte sie zu vernichten. Jetzt den Rückzug anzutreten, aus Sorge um sein eigenes läppisches Dasein, kam für ihn nicht in Frage.
Einzig die Gewissheit, Rebekka Heinrich zurückzulassen und wohl nie mehr wiederzusehen, bereitete ihm wirkliche Qualen. Doch gerade vor ihr durfte er sich nicht die Blöße der Feigheit geben. Sie musste stolz auf ihn sein können. Nichts und niemand konnte ihn von seinem Entschluss abbringen, die
Leviathan
unschädlich zu machen, ehe sie den Verlauf der Weltgeschichte zum Schlechteren beeinflusste.
Er war nicht begierig darauf, den Rubikon zu überschreiten. Aber er hatte auch keine Furcht davor, den ersten Fuß in das Wasser zu setzen.
* * *
David Levi legte sich die Gebetsriemen an. Erst jetzt, beim dritten Versuch, gelang es ihm, das Band korrekt um den linken Arm zu wickeln. Er war noch nie sehr gut darin gewesen. Aber er betete ja auch nicht allzu häufig.
Seine spärlich eingerichtete Wohnung wurde nur von den Kerzen des siebenarmigen Leuchters erhellt. Ob die Verwendung der Menora zu einem solchen Anlass angemessen war, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch kaum. Rituelle Details empfand er als belanglos. Und ganz verkehrt würde der Leuchter schon nicht sein.
Die Freiwilligen, die er ausbildete, verbrachten Silvester in ihren Heimatorten. Levi hatte keine Notwendigkeit gesehen, alleine auf Mathildenruh zurückzubleiben, und war gleichfalls für einige Tage nach Friedrichsburg zurückgekehrt. Ohnehin war es an der Zeit gewesen, sich pflichtgemäß beim Kommando seines Regiments zu melden. Dort sah man, ganz wie er erwartet hatte, keinen Anlass, ihn aus der großzügig gewährten langen Beurlaubung vorzeitig zum Dienst zurückzubeordern. Nicht übermäßig subtil gab man ihm sogar indirekt zu verstehen, dass man seine Abwesenheit am liebsten als Dauerzustand sehen würde. Mit derartigen Andeutungen hatte er aber gerechnet. Zu viele Gehässigkeiten hatte er schon einstecken müssen, um sich über diese noch besonders aufzuregen.
Wann immer ihm Zweifel an seiner Entscheidung kamen, genügte es vollauf, sich die Essenz seiner Erfahrungen ins Bewusstsein zu rufen. Dann zerstoben alle Skrupel und er wusste, dass er richtig handelte. Er wollte nicht Jahrzehnte als Paria auf einem Abschiebeposten verbringen oder, aufgerieben durch Verachtung und Anfeindungen, frühzeitig um seinen Abschied ersuchen. Daher empfand er sein Vorgehen als richtig oder doch wenigstens als gerechtfertigt. Das Gewissen plagte ihn nicht.
Noch einmal prüfte Levi den Sitz der Gebetsriemen. Dann war er bereit, sich an Jahwe zu wenden. Das christliche Neujahrsfest mochte dafür ein ungewöhnlicher Zeitpunkt sein, aber angesichts der Herausforderungen, die ihm im heraufdämmernden Jahr bevorstanden, hielt er es für angebracht, genau jetzt Segen und Beistand vom Allmächtigen zu erbitten.
Er ignorierte den atonalen Gesang der angeheiterten Zecher, die unter seinem Fenster vorüberzogen, und begann sein Gebet.
* * *
Mit einem Glas Rotwein in der Hand trat Wenzel von Kolowrath hinaus auf die Veranda seines Hauses.
Die letzten Minuten des Jahres wollte er mit einem Blick auf die
Leviathan
begehen. Umgeben von glitzernden Wellen lag sie in der Bucht. Noch größer und ehrfurchtgebietender als bei Tag erschien sie im silbrigen Licht des zunehmenden Mondes.
Kolowrath empfand großen Stolz. Dass dieses Schiff dort lag, vollbeladen mit Baumwolle und bereit zum Auslaufen, war sein Meisterstück. Und das unsichtbare Netz, das er dazu gesponnen hatte, suchte in seiner feinmaschigen Vollendung seinesgleichen. Wie viele Leute zappelten in diesem Netz, ohne es auch nur zu ahnen.
Der Österreicher rückte die Brille zurecht, führte das Glas zum Mund und trank genüsslich einen Schluck Wein. Er war sehr zufrieden mit diesem Jahr und mit sich selbst.
* * *
»Wir haben kein Glück mit den Männern«, meinte Rebekka Heinrich bedrückt. »Der eine fühlt sich am Portepee gefasst und verwandelt um der Ehre willen sein Leben in einen Scherbenhaufen. Der andere redet sich um Kopf und Kragen, merkt es aber erst, als das
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