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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Das Hausmädchen war sichtlich überrascht, als sie Täubrich erblickte. Unverkennbar hatte sie nicht erwartet, ihn so bald wiederzusehen. Sie tat ihr Möglichstes, ihre Irritation zu verbergen, und begrüßte ihn mit geziemendem Respekt. Dann jedoch wurde sie plötzlich von Nervosität ergriffen. Noch ehe der Doktor überhaupt etwas sagen konnte, teilte sie ihm überhastet mit, dass die Direktorin und die Lehrerin ausgegangen waren, und verhaspelte sich dabei sogar mehrmals.
    »Das macht nichts«, meinte Täubrich mit beruhigendem Lächeln. »Würden Sie Fräulein von Rheine bitte dies aushändigen, sobald sie zurückkehrt?«
    Er übergab ihr das Etui aus poliertem Holz, dessen Deckel mit filigranen Intarsien verziert war. Gerdas Augen leuchteten, als sie die kostbar gearbeitete Schatulle entgegennahm. Ihr spärlicher Lohn gestattete ihr zwar keine teuren Anschaffungen, aber wertvolle Preziosen erkannte sie mit untrüglichem weiblichen Gespür für alles Schöne sogleich.
    »Oh ja … sehr wohl, Herr Doktor«, bestätigte sie hingerissen. »Wünschen Sie, dass ich dem gnädigen Fräulein dazu etwas ausrichte?«
    »Das wird nicht vonnöten sein«, verneinte Täubrich. Er lüftete den Zylinder, wünschte dem verwundert dreinblickenden Hausmädchen einen angenehmen Tag und kehrte zur wartenden Droschke zurück.
     
    * * *
     
    Eine ansehnliche Menschenmenge drängte sich an den Quais des Neuen Hafens. In großer Zahl waren Schaulustige gekommen, um das Auslaufen des Riesenschiffs mitzuerleben. Dass ein Objekt von so ungeheurer Größe durch die Kraft des Dampfes in Bewegung versetzt werden konnte, grenzte für nicht wenige an ein modernes Wunder, dessen Zeuge sie unbedingt sein wollten. Mehrere Photographen hatten ihre klobigen Kameras aufgestellt, um das spektakuläre Ereignis auf Glasplatten für die Nachwelt festzuhalten. Unablässig scheuchten sie Zuschauer beiseite, die durch Unachtsamkeit oder bloße Ignoranz vor die Objektive gerieten.
    Auch Wenzel von Kolowrath hatte sich am Hafen eingefunden, um dabei zu sein, wenn die
Leviathan
ihre Fahrt antrat. Nicht war er dort, um über den Anblick des Schiffes zu staunen, sondern um seinen bislang größten Triumph auszukosten. Er wusste, dass er in seinem Metier zu den Besten zählte. Doch was er hier vollbracht hatte, übertraf bei Weitem die Erfolge aller seiner Kollegen in sämtlicher Herren Länder. Natürlich war ihm wohl bewusst, dass er nur einen Zwischensieg errungen hatte und die Operation erst noch zu einem erfolgreichen Ende gebracht werden musste. Doch das bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Sofern nicht gerade ein Orkan von nie gesehener Gewalt über das Schiff hereinbrach und die Wellen des Ozeans es verschlangen, konnte nichts die Mission gefährden. Kein Mensch war jetzt noch in der Lage, die
Leviathan
aufzuhalten. Diese Gewissheit stimmte Kolowrath höchst zufrieden.
     
    Wieder holte Jeremiah Weaver seine goldene Taschenuhr hervor, ließ den Deckel aufspringen und betrachtete mit missbilligender Miene das Zifferblatt. »Verflucht noch mal, das dauert!«, knurrte er verstimmt.
    Healey hatte den Verleger begleiten müssen, um bei einigen letzten Formalitäten im Hafenamt seine Unterschrift zu leisten. Nun stand er sich untätig die Beine in den Bauch. Nicht, dass im Büro irgendwelche Arbeit seiner harrte; es gab für ihn dort rein gar nichts zu tun. Aber an seinem Schreibtisch hätte er zumindest in aller Ruhe nachdenken können. Er musste sich nämlich überlegen, auf welche Weise er sich um Amalie von Rheines Gunst bemühen wollte. Er hatte eine Reihe wichtiger Dinge in Erwägung zu ziehen. Unter anderem galt es zu beachten, dass er keinesfalls überstürzt handeln durfte, um nicht ruchbar werden zu lassen, wie lange er schon auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Aber langes Zögern war auch unklug. Immerhin bestand die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass Doktor Täubrich sich nach einer Weile wieder fing und Fräulein von Rheine mit Rosen, Präsenten und reumütigen Beteuerungen zu einer Aussöhnung bewegte.
    Weaver klappte den Deckel der Taschenuhr zu und steckte sie zurück in die Tasche der karierten Weste, die seinen gewaltigen Bauch stramm überspannte. »Wo bleibt der Mensch nur?«, grummelte er.
    Eine Barkasse unter Dampf lag am Quai bereit, doch wen sie zur
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hinüberbringen sollte, war Healey nicht bekannt. Nur, dass die betreffende Person arg auf sich warten ließ und dadurch Weaver ganz erheblich verärgerte. Eigentlich

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