Die Fahrt des Leviathan
versetzt, die Seelenpein anderer besonders deutlich wahrzunehmen.
Für einen Moment schweiften ihre Gedanken zu Georg Täubrich ab. Amalie hatte fest damit gerechnet, dass er gleich am Neujahrstag erscheinen und um Verzeihung bitten würde. Natürlich wäre es ihr unmöglich gewesen, ihm zu vergeben und ihre Verbindung fortzuführen, als sei nichts geschehen. Doch er war nicht gekommen, weder am vorigen Tag noch an diesem. Hielt Zerknirschung ihn fern oder war es doch eher die Absicht, sie durch schmerzhaftes Schweigen zu bestrafen? Zeigte er nun einen Teil seines Charakters, den sie bisher nicht kennengelernt hatte?
Hastig verscheuchte Amalie diese deprimierenden Überlegungen. Sie wollte diese ganze schlimme Enttäuschung am liebsten völlig vergessen. Und sie empfand auch keinerlei Bedürfnis, Wilhelm Pfeyfer mit weiteren Fragen in Verlegenheit zu bringen. Dazu konnte sie zu gut erahnen, wie ihm zumute war.
Rebekka unternahm gleichfalls keinen weiteren Versuch mehr, Zweifel im Major zu wecken, um ihn möglicherweise doch noch zur Umkehr zu bewegen. Ohnehin waren alle ihre Bemühungen, ihn zurückzuhalten, in kraftloser Unentschlossenheit versandet. Ihr innerer Zwiespalt lähmte sie.
»Möge Gott dir morgen beistehen«, wünschte sie ihm und ergriff seine Hände.
»Uns allen«, ergänzte Pfeyfer, wobei er ihr in die Augen sah. »Wenn ich versage und die
Leviathan
wirklich mit Kriegsgütern zurückkehren sollte … Ein großer Sieg der Konföderierten könnte nach dem Debakel bei Fredericksburg den Kriegswillen der Union brechen. Und Grant hat am Mississippi ebenfalls den Karren hoffnungslos in den Dreck gefahren …«
»Welcher Grant?«, stutzte Rebekka, der dieser Name zunächst nicht geläufig war. Dann jedoch erinnerte sie sich an den Unionsgeneral, der nach einer extrem blutigen Schlacht im vergangenen Frühjahr in Ungnade gefallen war. Dass von einem solchen Mann keine guten Neuigkeiten zu erwarten waren, wunderte sie nicht.
Die Direktorin seufzte bitter. »Es führt kein Weg daran vorbei«, stellte sie leise, mit beinahe klangloser Stimme fest.
3. Januar
Major Pfeyfer trat aus der Petrikirche ins Freie. Strahlender Sonnenschein und ein wolkenlos klarer Winterhimmel empfingen ihn. Ein kleiner Schwarm grell zeternder Spatzen schwirrte furchtlos zwischen den Säulen des Kirchenportals hindurch.
Eine halbe Stunde hatte Pfeyfer sich zur stillen Rechtfertigung vor dem Allmächtigen zugestanden, bevor er zur Bastion Derfflinger aufbrach. Doch fühlte er sich keinesfalls in seiner Gewissenslast erleichtert, wie er nunmehr missmutig resümierte. Dass ihm als Lutheraner versagt blieb, sich wie die Katholiken durch eine kurze Beichte und einige rasch heruntergebetete Ave Maria effizient von allen Schuldgefühlen loszukaufen, empfand er an diesem Morgen als schmerzliches Defizit.
Er setzte sich die Pickelhaube wieder auf und schloss die beiden Knopfreihen des grauen Offiziersmantels. Dem Jungen, der am Straßenrand auf sein Pferd achtgegeben hatte, drückte er eine Zwei-Pfennig-Münze in die Hand.
Dann jedoch überlegte er es sich anders. An diesem Tag, so fand er, war Knauserigkeit unangebracht. Bald würde er sowieso kein Geld mehr benötigen, folglich konnte er freigiebig sein. Pfeyfer gab dem sprachlosen Jungen zusätzlich einen Silbergroschen, schwang sich in den Sattel und gab dem Pferd die Sporen.
* * *
Seit zehn Uhr schon harrte Georg Täubrich in der Droschke aus und beobachtete aus sicherer Entfernung die Töchterschule. Was der Kutscher von ihm denken mochte, war ihm egal. Er hatte etwas ungemein Wichtiges zu erledigen und dafür nahm er auch in Kauf, dass sein Verhalten befremdlich erschien.
Endlich wurde sein Warten belohnt. Der alte Pedell öffnete das Tor zum Innenhof der Schule und sicherte die Torflügel mit Haken. Keine Minute verging, dann rollte der Einspänner heraus. Amalie und Rebekka machten sich wie angekündigt zur Uferpromenade auf, um das Auslaufen der
Leviathan
zu verfolgen.
Täubrich geduldete sich noch, bis die Kutsche mit den beiden Frauen hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war und auch das Hufklappern nicht mehr an seine Ohren drang. Dann, als er sich ganz sicher sein konnte, dass sie sich weit genug entfernt hatten, entstieg er mit einem Etui in der Hand der Droschke. Er wies den Kutscher an, einen Moment auf ihn zu warten, und begab sich zum Schulgebäude.
Nachdem er die Türglocke betätigt hatte, dauerte es nicht lange, bis Gerda ihm öffnete.
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