Die Fahrt des Leviathan
beriet sich rasch mit Amalie. Sie kamen zu dem Schluss, dass ihnen noch genügend Zeit blieb, um kehrtzumachen und das Fernglas zu holen. Zwar konnten sie dann vielleicht nicht dabei sein, wenn das Schiff die Anker lichtete. Doch den entscheidenden Augenblick würden sie sicher nicht versäumen.
Mit einem doppelten Schnalzen der Reitpeitsche trieb Rebekka das Pferd wieder an. Sie wendete, was trotz der Breite des Boulevards wegen eines ungünstig abgestellten sechsspännigen Brauereifuhrwerks einiges Geschick verlangte, und lenkte ihre Kutsche zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
* * *
Die Menschenmenge am Quai teilte sich und ließ eine Droschke passieren. Weavers missgelaunte Miene hellte sich nur wenig auf, als sich die Kutsche näherte. »Das dürfte er wohl sein. Wird auch Zeit«, brummte er verdrossen.
Die Droschkentür wurde aufgestoßen und zu Healeys maßlosem Erstaunen war es Georg Täubrich, der mit einem Koffer in der Hand heraussprang. Der Arzt hetzte mit wehenden Rockschößen vorüber, grüßte im Vorbeilaufen und rannte mit halsbrecherischer Eile die steile Gangway zum schwimmenden Anleger der Barkasse hinab.
Mit offenem Mund blickte Healey ihm nach, wandte sich dann zu Weaver um und wollte etwas sagen. Die Überraschung hatte ihn jedoch so übermannt, dass er zunächst nur stumm den Mund bewegte, als würde er nach Luft schnappen. Aber dann gelang es ihm doch, seiner Irritation Herr zu werden, und er fragte perplex: »Sie – haben Doktor Täubrich als Schiffsarzt engagiert?«
»Wie Sie sehen, Mr. Healey«, bestätigte der Verleger. Seine schlechte Stimmung verflog unversehens und er lächelte undurchsichtig. »Ein wahrer Glücksfall, dass ich ihn gewinnen konnte. Wenige gute Mediziner sind willens, sich für die Unbequemlichkeiten einer Seereise für mehrere Wochen von allem zu trennen, was sie schätzen und lieben.«
Erst als Weaver das sagte, ging Healey mit einem Mal auf, was für ein Geschenk ihm das Schicksal damit beschert hatte. Er konnte sich nun um Amalie von Rheine bemühen, frei von Zeitdruck und ohne befürchten zu müssen, dass Täubrich ihm in die Parade fuhr und sein Werben zum Scheitern verurteilte. »Oh ja, wirklich ein Glücksfall«, pflichtete er begeistert bei. »Ganz unglaubliches Glück sogar.«
Mit einem hocherfreuten breiten Grinsen schwenkte er den Hut, als die Barkasse unter Volldampf auf die
Leviathan
zuhielt.
* * *
»Von Georg?«, wunderte sich Amalie.
»Ja, gnädiges Fräulein«, bestätigte Gerda. »Er kam ganz kurz, nachdem Sie das Haus verlassen hatten.«
Rebekka verstaute das Lederfutteral mit dem Fernglas, das sie gerade aus ihrem Arbeitszimmer geholt hatte, sorgsam in dem ausgepolsterten Henkelkorb und beäugte neugierig die polierte Holzschatulle in Amalies Händen. »Oha, da hat er sich aber mächtig ins Zeug gelegt, um bei Ihnen gut Wetter zu machen«, erkannte sie sogleich. »Wenn der Inhalt hält, was die edle Verpackung verspricht … Was mag sich darin befinden?«
»Was es auch ist – sollte er glauben, mich mit einem kostspieligen Geschenk umstimmen zu können, hat er sich geschnitten«, befand die Lehrerin indigniert. Sie reichte die Schatulle wieder dem Hausmädchen und wandte sich zur Wohnungstür, um zu gehen.
»Ja, wollen Sie es denn nicht öffnen?«, fragte Rebekka.
»Das hat Zeit bis später. Wir müssen uns doch jetzt sputen.«
»Ach, die paar Sekunden können wir gerade noch entbehren. Geben Sie sich einen Ruck«, versuchte Rebekka sie umzustimmen. »Ich möchte einfach zu gerne wissen, was er Ihnen da geschenkt hat. Und Sie eigentlich auch, oder?«
Unwillkürlich nickte Gerda bei diesen Worten lebhaft und verriet damit, dass auch sie kaum erwarten konnte, einen Blick ins Innere der Schatulle zu werfen. Sobald sie sich der Unangemessenheit ihres Verhaltens bewusst wurde, zwang sich augenblicklich zur Zurückhaltung.
Entnervt rollte Amalie mit den Augen, gab dann aber nach. »Also schön. Ich gestehe ja, ich bin auch neugierig.«
Sie nahm das Etui erneut entgegen, öffnete den Verschluss und klappte den Deckel auf. Zunächst war nur ein gefaltetes Stück Papier sichtbar; Amalie hob es an, um herauszufinden, was sich darunter verbarg.
»Oh mein Gott!«, entfleuchte es ihr, als sie des eigentlichen Inhalts ansichtig wurde.
Auf schwarzen Samt gebettet lag das silberne Armband, von dem sie so sehr geschwärmt hatte. Noch glänzender und schöner als im Schaufenster, wo es in Konkurrenz zu so vielen
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