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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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interessierte er sich keinen Deut für die Angelegenheiten, die mit dem Schiff zusammenhingen. Man hatte ihm ja auch zu verstehen gegeben, dass ihn nichts davon etwas anging. Nun aber fragte er sich schon, welches Mannschaftsmitglied noch fehlte und zudem so unverzichtbar war, dass die
Leviathan
nicht ohne ihn die Anker lichten durfte.
    »Sofern Sie mir die Frage gestatten, Sir«, erkundigte er sich zurückhaltend, »würde ich gerne wissen, auf wen die Barkasse eigentlich wartet.«
    »Auf den Schiffsarzt«, entgegnete Weaver kurz angebunden.
    Es überraschte Healey nicht im Geringsten, erst jetzt zu erfahren, dass Weaver ohne sein Wissen einen Arzt eingestellt hatte. Schließlich geschah so ziemlich alles über seinen Kopf hinweg, wieso sollte der Verleger ihn dann ausgerechnet über diese Sache in Kenntnis setzen? Letztlich war es ihm ganz egal. Ihn beschäftigten Fragen, die für ihn ungleich bedeutsamer waren.
    Vielleicht sollte ich Fräulein Amalie ein Bouquet schicken?,
kam ihm in den Sinn.
Welche Blumen gibt es zu dieser Jahreszeit überhaupt?
     
    * * *
     
    Dumpf dröhnten die Holzbohlen unter den Huftritten. Die Brücke bildete das letzte Stück des Dammes, der die Bastion Derfflinger mit dem Festland verband. Pfeyfer war am Ziel.
    Als er sich dem Eingangstor näherte, präsentierte der Wachposten vor dem schwarz-weißen Schilderhaus das Gewehr. Der Major brachte das Pferd zum Stehen, legte die Hand zum militärischen Gruß an den Rand des Helmschirms und schnarrte betont arrogant, wie es seiner Rolle als dünkelhafter Pedant entsprach: »Wo finde ich den Sergeanten Freimann, Kanonier?«
    »In der Stube des Offiziers vom Dienst, Herr Major«, lautete die prompte Antwort. »Wünschen Herr Major, dass ich einen Mann kommen lasse, der Sie dorthin führt?«
    »Nicht notwendig«, beschied ihn Pfeyfer knapp. Er schnalzte mit der Zunge; sein Pferd setzte sich wieder in Bewegung und er ritt in das tunnelartige finstere Torgewölbe.
     
    * * *
     
    Die Trottoirs waren angefüllt mit Menschen, die zur Südspitze der Unterstadt strebten. Ein steter Strom Neugieriger schob sich in Richtung der Bucht. Ganz Friedrichsburg, so schien es, war auf den Beinen, um das Auslaufen der
Leviathan
zu erleben.
    Immer wieder liefen einzelne Fußgänger und sogar ganze Gruppen unversehens auf die Straße, um zu dem vermeintlich weniger stark frequentierten Gehweg der gegenüberliegenden Seite hinüberzuwechseln oder weil sie sich auf dem Fahrdamm ein rascheres Vorankommen versprachen. Nur dank ihrer Umsicht gelang es Rebekka, jede Kollision zu vermeiden, wenn auch bisweilen nur im allerletzten Moment. Mehrmals musste sie durch abruptes Anziehen der Zügel ihren Einspänner zu einem plötzlichen Halt bringen oder mittels scharfer Schlenker Ausweichmanöver durchführen.
    Amalie betrachtete die Scharen gutgelaunter Schaulustiger mit bedrückter Miene. »Wenn die ahnen könnten, was bevorsteht«, murmelte sie.
    »Sie würden trotzdem, nein, sie würden dann erst recht zur Bucht strömen«, meinte Rebekka zynisch. »Sensationslust kann obszöne Blüten treiben. Wussten Sie, dass sich zur ersten Schlacht des Bürgerkrieges, die unweit Washingtons stattfand, zahlreiche Bewohner der Hauptstadt als Zuschauer mit Picknickkörben eingefunden hatten? Und ebenso dürften sich auch unsere geschätzten Mitbürger kaum davon abhalten lassen, Augenzeugen eines einzigartigen Spektakels zu werden, nur weil es vermutlich mit dem Verlust von Menschenleben einhergehen wird.« Die Direktorin zerrte an den Zügeln und umfuhr mit wenigen Zoll Abstand einen Gymnasiasten, der sich gerade mitten auf der Straße nach seiner zu Boden gefallenen Schülermütze bückte.
    »Mich jedenfalls schaudert bei dem Gedanken an das Kommende«, meinte Amalie; ein Zittern lag unter ihren Worten. »Ich würde mich fernhalten, aber ich will und werde Sie in diesen schweren Augenblicken nicht alleine lassen.«
    »Und dafür kann ich Ihnen nicht genug danken. Es ist gut, Sie an meiner Seite zu haben. Auch ich würde mir diesen Anblick am liebsten ersparen, aber … es ist seltsam.« Rebekka atmete bemüht durch. »Ich fühle mich verpflichtet, Willi durch meine Anwesenheit Respekt für sein Opfer zu erweisen. Und wenn ich schon nicht bei ihm sein kann, muss ich mich ihm wenigstens nahe wähnen. Ich will durch das Fernglas sehen, wie er an der Kanone steht und – oh! Das Fernglas! Ich habe es auf dem Schreibtisch zurückgelassen.«
    Die Direktorin ließ das Pferd haltmachen und

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