Die Fahrt des Leviathan
Drei, höchstens vier Minuten würde es noch dauern, bis das Schiff die Boje erreichte. Doch schon jetzt war es so dicht herangekommen, dass seine Größe erdrückend wirkte. Pfeyfer fiel auf, dass es keine Schlagseite mehr hatte. Die vielen tausend Ballen Baumwolle waren mit Bedacht so verteilt worden, dass sie die leichte Schräglage des leckgeschlagenen Riesen ausglichen. Durch das enorme Gewicht der Fracht lag das Schiff so tief im Wasser wie wohl noch nie zuvor, seitdem es vom Stapel gelaufen war.
Pfeyfer erteilte Befehle für das Ausrichten des geladenen Geschützes. Die Kanoniere betätigten flugs die Stellräder; unter dem metallischen Klacken ineinandergreifender Zahnräder senkte sich das mächtige Kanonenrohr. Zugleich bezog der Major dicht neben dem Achtzöller Position, so als wollte er aus der Nähe jeden Handgriff der Artilleristen kontrollieren. Tatsächlich jedoch ging es ihm darum, die Reißleine des Auslösers in Griffweite zu haben. Alles hing davon ab, dass er im richtigen Moment blitzschnell die Leine packte und kräftig zog. Dass einer der Soldaten eingriff und seine Absicht vereitelte, hielt Pfeyfer für ausgeschlossen. Zumindest, wenn ihm kein Fehler unterlief.
Wieder schaute er auf die sich langsam nahende
Leviathan.
Seine Unruhe wuchs. Doch gleichzeitig verspürte er grimmige Genugtuung, weil er sich der eigentümlichen Ironie dieser Situation bewusst wurde. In maßloser Hybris hatten sich die Sklavenhalter dazu verstiegen, ihrem Schiff den Namen eines unbezwingbaren biblischen Ungeheuers zu geben. Und nun entpuppte sich dieses Ungeheuer als lahmes Kaninchen, das fett und träge direkt vor die Flinte des Jägers trottete.
* * *
Der Einspänner kam so stürmisch über den Damm herangeprescht, dass der Wachposten befürchtete, das Pferd könnte durchgegangen sein. Er machte sich bereit, notfalls in Windeseile nach dem Zaumzeug zu greifen, um das außer Kontrolle geratene Tier zur Raison zu bringen und die beiden Frauen auf dem Wagen vor einem schrecklichen Unglück zu bewahren. Doch dazu kam es nicht. Die dunkelhäutige Lenkerin riss fest an den Zügeln und brachte den völlig erschöpft schnaubenden Wallach direkt vor ihm abrupt zum Stehen.
»Wo ist Major Pfeyfer?«, schleuderte sie ihm drängend entgegen.
»Sie meinen gewiss den Herrn Major, der kürzlich hier eintraf?«, vermutete der Soldat, leicht verunsichert durch den dramatischen Auftritt der zwei Unbekannten. »Er befindet sich oben bei der Hauptbatterie, wo er die Geschützmannschaft inspiziert. Wenn Madame wünschen, lasse ich jemanden kommen, der –«
»Dafür ist keine Zeit!«, fiel ihm die blonde Frau aufgeregt ins Wort. Sie sprang mit einem Satz vom Kutschbock und rannte mit wehenden Röcken schnurstracks durch das Tor.
Entsetzt blickte der Posten ihr hinterher. »Aber – Madame, halt! Ich bitte Sie, das geht doch nicht!«, rief er bestürzt. Vergeblich, sie blieb nicht stehen. Was sollte er tun? Niemand hatte ihn jemals darauf vorbereitet, dass Frauen versuchen könnten, unerlaubt in die Festung einzudringen. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie er sich in einem solchen Fall verhalten sollte. Unfähig zu einer Entscheidung stand er wie erstarrt.
»Oh verfluchte Scheiße, dafür wird mir den Major den Arsch aufreißen!«, murmelte er.
* * *
Am liebsten hätte Täubrich fest die Augen zugekniffen, als die
Leviathan
die Bastion Derfflinger erreichte. Beim Anblick der Festung überkam ihn fürchterlicher Trübsinn. Nicht wegen der abweisenden hohen Mauern des Bollwerks, sondern weil er unvermeidlich an das letzte Mal denken musste, als er in seinem Boot hier vorbeigesegelt war. Damals hatte er Amalie von Rheine an seiner Seite gehabt und sich unendlich glücklich gefühlt. Davon war nichts mehr vorhanden. Er hatte das Glück leichtfertig aus den Händen gleiten lassen und zurückgeblieben war eine schmerzhafte Leere.
In ihm nagte eine düstere Vorahnung.
Vielleicht würde er diesen Ort nie wiedersehen. Aber das war er in Kauf zu nehmen bereit. Wenn er nicht auf eine Weise zurückkehrte, die es ihm gestattete, Amalie wieder unter die Augen zu treten, dann war der Tod wohl eine Gnade.
Ein schrilles Kreischen über seinem Kopf holte ihn aus seinen finsteren Gedanken. Als er aufsah, erblickte er einige kreisende Möwen, die kurz in die Rauchwolke der fünf Schornsteine geraten waren und nun erbost zeterten. Die verstimmten Seevögel entlockten Täubrich ein schmales Lächeln.
Er wollte sich
Weitere Kostenlose Bücher