Die Fahrt des Leviathan
zittern begann, und umklammerte den Degengriff, damit es niemand bemerkte.
Dann positionierte er sich vor den Soldaten und verkündete: »Auch wenn Sie die Friedensbesatzung der Bastion sind, müssen Sie in der Lage sein, jederzeit einem Angriff feindlicher Schiffe zu begegnen. Darüber will ich mir nunmehr Gewissheit verschaffen. Sie werden jetzt Geschützdrill mit scharfer Munition am Achtzöller durchführen. Das simulierte Ziel ist die auslaufende
Leviathan.
Sergeant, übernehmen Sie!«
Der Sergeant bestätigte die Order, trat vor und begann, in bellendem Ton seine Befehle herauszubrüllen. Auf der Stelle eilten die Kanoniere auf ihre fest zugewiesenen Posten; einige rannten hinüber zu dem großen Geschütz, andere zum Munitionskran. Jeder wusste exakt, welche Handgriffe er zu tätigen hatte.
Pfeyfer holte eine Taschenuhr hervor und tat so, als würde er die Präzision, mit der die Soldaten ihre Aufgaben ausführten, durch ständige Blicke auf den Sekundenzeiger unerbittlich kontrollieren. Tatsächlich aber spähte er über die Mauer hinweg nach der ihrem Schicksal entgegendampfenden
Leviathan.
* * *
Der Einspänner hatte gerade das obere Ende der Auffahrt zur General-Benedikt-Arnold-Brücke erreicht, da riss Rebekka an den Zügeln und brachte den Wagen ruckartig zum Stehen. Fassungslos sahen die beiden Frauen über die Mündung des Flusses hinweg zum Hafen. Die
Leviathan
hatte ihren Ankerplatz verlassen und fuhr langsam in Richtung des Meeres.
Rebekka schlug entgeistert die Hände an die Wangen. »Mein Gott, wir kommen zu spät! Er ist verloren!«
»Nein! Wir dürfen ihn nicht aufgeben!«, rief Amalie aufgeregt aus. »Weiter zur Festung! Wenn wir vor dem Schiff dort sind, können wir ihn retten!«
Zwar wusste die Direktorin, wie verschwindend klein ihre Chance war, den verhängnisvollen Schuss zu verhindern. Aber durch Amalies verbissenes Festklammern an diesem letzten Strohhalm entsann sie sich auch wieder der Stärken ihrer eigenen Natur. Kleinmütig zu kapitulieren war ihre Sache nicht.
Sie griff nach der Peitsche, um das Pferd anzutreiben.
* * *
Täubrich stand beim Steuerbordschaufelrad, die Hände auf die Bordwand gestützt, und sah in die Tiefe. Vier Stockwerke unter ihm gruben sich die gewaltigen Eisenschaufeln machtvoll in das braungrüne Wasser, wühlten es zu schaumbekrönten Gebirgen auf, die so schnell wieder vergingen , wie sie sich aufgetürmt hatten. Er spürte, dass unter seinen Füßen die Decksplanken vom Stampfen der Maschinen zitterten.
Nun gab es für ihn also kein Zurück mehr. Er hatte sich dem Schiff ausgeliefert.
* * *
In halsbrecherischem Tempo jagte der Einspänner die Küstenstraße entlang. Rasend schnell hämmerte das Trommeln der Hufe auf dem Macadam, mengte sich unter das atemlose Rattern der Räder und das gehetzte Keuchen des Pferdes.
Die Qualen des Tiers zerrissen Rebekka das Herz; aber sie konnte ihm keine Ruhe gönnen, musste es rücksichtslos antreiben. Die Zeit rannte davon. Immer wieder blickten die beiden Frauen angstvoll nach links, auf die Bucht, wo die
Leviathan
scheinbar unaufhaltsam dem Untergang entgegenstrebte. Sie hatten das Schiff knapp überrundet, aber der Vorsprung war winzig und unsicher.
Die steil aus dem Wasser ragenden Ziegelmauern der Bastion Derfflinger waren bereits trügerisch nah. Aber die Straße lief nicht gerade auf sie zu, sondern wand sich in engen Biegungen zwischen heckenumgrenzten Feldern und Weiden. Furchtlos lenkte die Direktorin den Einspänner so schnell durch die Kurven, dass er jedes Mal um ein Haar in den Graben geschleudert wurde. Das ganze Gefährt krachte und stöhnte unter den abrupten Belastungen, als müsste es unweigerlich im nächsten Augenblick entzweibrechen. Doch Rebekka ließ sich durch nichts einschüchtern. Nicht jetzt, nicht mit dem Ziel vor Augen.
* * *
Alles hatte Pfeyfer exakt vorauskalkuliert. Sein Anhaltspunkt war eine der Bojen, welche die Fahrrinne markierten. Genau in dem Moment, da sich der Bug der
Leviathan
auf einer Höhe mit dieser speziellen Boje befand, musste er das Geschütz abfeuern. Unmittelbar hinter dem Schaufelrad sollte die Granate auf der Wasserlinie einschlagen. Dann zerstörte sie die Maschine, ließ Dampfkessel bersten, setzte Kohlebunker in Brand und riss eine tödliche klaffende Wunde in den Bauch des Schiffes. Ein Treffer an genau dieser Stelle verwandelte die
Leviathan
in einen brennenden Eisensarg.
Noch war es nicht so weit.
Aber bald.
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