Die Fahrt des Leviathan
auch in der Tat zu.
Doktor Täubrich konnte sich noch immer nicht sattsehen an Straßen wie dieser.
An der Kreuzung mit dem Stubbenhuk, einer weiteren engen Gasse, blieb er stehen, um ein besonders eindrucksvolles Eckhaus zu bewundern, das ihn an Darstellungen des alten Amsterdam erinnerte. Filigran und bodenständig zugleich nahm sich die geradezu tollkühn hoch aufgereckte Konstruktion aus Balken und dunkelrotem Backstein aus, die von einem steilen Mansarddach gekrönt wurde. Ob Hinrich Hell, der einem Schild neben dem Portal zufolge hier mit Tee und Kaffee handelte, überhaupt wusste, in was für einem Juwel von Haus er tagtäglich seine Kunden bediente? Täubrich bezweifelte es.
Niemand schenkt jemals dem Gewohnten Beachtung,
dachte er bekümmert.
Bis es eines Tages verschwindet. Erst mit dem Verlust kommt die Wertschätzung. Dann, wenn es zu spät ist.
Vielleicht würde dieses Haus noch lange genug stehen, damit viele kommende Generationen von Passanten achtlos an ihm vorübergehen konnten und gelegentlich ein Fremder innehielt, um ihm Bewunderung zu zollen. Doch ebenso gut war es möglich, dass schon in naher Zukunft Scharen von Arbeitern mit Spitzhacken anrückten, um den Fachwerkgiebel niederzureißen, und mit ihm alle anderen der Umgebung. Oder war es sogar unausweichlich? Zwei Jahrzehnte zuvor hatte eine Feuersbrunst ein Viertel der Stadt mit Hunderten uralter Bauten verzehrt. Und da der Hohe Senat der Freien und Hansestadt Hamburg sich vorwiegend aus Kaufleuten zusammensetzte, die jedem Konkurs neue Aktivposten zu entringen bestrebt waren, hatten die Häupter der Stadtrepublik nach dem Abklingen des ersten Entsetzens auch die Feuerkatastrophe als Gelegenheit aufgefasst, die es zu nutzen galt. Noch während die Trümmer des alten Hamburg schwelten, waren Architekten und Ingenieure verpflichtet worden, die, von Neuerungsdrang erfüllt, großzügige Straßen mit breiten Trottoirs anlegten, gesäumt von modernen Bauwerken, fensterreich und blendend weiß verputzt, so elegant wie gesichtslos. Die Hamburger hatten sehr bald Geschmack gefunden am neuen Antlitz ihrer wiederauferstandenen Stadt.
Gar so viel Geschmack, dass sie bald schon die vom Feuer verschonten Straßenzüge als unerträglich abstoßend empfinden würden? Dass sie sich der verwinkelten Gassen schämten und die mittelalterliche Enge gar nicht schnell genug beseitigen konnten? Kam es so, dann waren nicht allein die Tage des Hauses im Schaarsteinweg gezählt.
Als Arzt wusste Täubrich natürlich, dass hinter der malerischen Kulisse nur allzu häufig der Tod lauerte. Cholera, Schwindsucht und ungezählte andere Krankheiten hielten hier grausige Ernte. Lichtlose, klamme Räume voller Schimmel und Ungeziefer, offene Senkgruben in den Hinterhöfen, Wasser aus stinkenden Fleeten, in denen sich Fäkalien und Abfälle sammelten, all das verschaffte den Seuchen ein fruchtbares Feld. Jenseits von kühler Vernunft und medizinischen Betrachtungen aber wurde sein Herz schwer, wenn er sich ausmalte, dass die alten Giebel niedergerissen werden könnten, um dem rücksichtslos herandrängenden Neuen Platz zu machen.
Ein lautes Klatschen riss ihn aus seinen schweifenden Gedanken und ließ ihn herumfahren. Ein Klumpen nassen Schnees, der sich von einem Dach gelöst hatte, war direkt hinter ihm auf das Pflaster gefallen. Nun erst entsann er sich, dass er ja zwei Pakete bei sich trug, die langsam aber sicher aufzuweichen drohten. Unverzüglich setzte er seinen Weg fort.
Täubrich folgte weiter dem Schaarsteinweg, bis er aus der bedrängten Enge der Gasse auf den Schaarmarkt gelangte. Der große Platz war kaum belebt. Zwei Hausmädchen mit gefüllten Einkaufskörben standen bei einer Wasserpumpe und gingen ganz in einer schnatternden Unterhaltung auf, als würde sie das scheußliche Wetter nicht betreffen. Vor einer Weißwarenhandlung fegte ein Lehrling mit sauertöpfischer Miene den klebrigen Schneematsch beiseite. Ansonsten waren weit und breit keine Menschen auszumachen.
Glockenschläge ließen Täubrich aufblicken zum Turm der Michaeliskirche, der wie ein kolossaler kupfergrüner Zeigefinger die Dächer weit überragte. Halb zwölf zeigte die Uhr; somit blieb dem Doktor noch reichlich Zeit bis zu seiner Verabredung mit Kapitän Ellerbrook. Dennoch beschleunigte er seine Schritte, um schnell der unangenehmen Witterung zu entgehen. Schließlich musste er ja auch achtgeben, die beiden Pakete unter seinem Arm vor der Nässe zu schützen, auch wenn eines von
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