Die Fahrt des Leviathan
schwacher Abglanz. Die Stufen, die zum Rasen hinabführten, wurden größtenteils von Schatten verschluckt. Beinahe ängstlich tastete Healey vor jedem Schritt mit der Schuhspitze im Dunkel, um nicht versehentlich ins Leere zu treten. Erst als er sicher auf dem durchweichten Rasen stand, wurden seine Schritte wieder sicherer. Er wanderte im Garten umher, die Arme wegen der kühlen Nachtluft vor der Brust verschränkt. Gelegentlich wandte er sich um und blickte auf den Wohntrakt der Schule. Eine Anzahl von Fenstern war hell erleuchtet, der Rest des Gebäudes hingegen verschmolz mit der umgebenden Dunkelheit. In einem dieser Räume wusste er Amalie von Rheine.
Obwohl er sich nach ihrer Gesellschaft verzehrte, hatte Healey der heutigen Einladung eigentlich nicht Folge leisten wollen. Die Fähigkeit, hinter das Verhalten seiner Mitmenschen zu blicken und ihre wahren Empfindungen zu erkennen, mochte bei ihm alles andere als ausgeprägt sein; dennoch war ihm nicht entgangen, wie sehr Fräulein Amalie seit Doktor Täubrichs Abreise litt. Sie gab sich heiter, doch Healey ließ sich davon nicht täuschen. Er spürte, wie es wirklich um sie stand. Ihm schien sogar, als wäre ihre verborgene Seelenpein in den letzten Tagen noch größer geworden. Ihre Qualen zerrissen ihm das Herz und stürzten ihn in schwere Zweifel.
Ich freue mich über Täubrichs Abwesenheit. Ich freue mich also über etwas, das Amalie Schmerzen bereitet. Das ist abartig! Wie kann ich ihr überhaupt noch in die Augen sehen? Ich sollte nicht hier sein. Nicht ihre Nähe suchen, nicht auf meine Stunde lauern, wie ein Aasgeier.
Healey blieb stehen. Er hatte die Ziegelmauer am Ende des Gartens erreicht. Eigentlich wollte er kehrtmachen, doch für einige Atemzüge verharrte er still. Dann ballte er plötzlich die Hand zur Faust und schlug gegen die Wand, zweimal, dreimal.
»Fuck!«, schnaubte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Du widerst mich an, Alvin Healey! Du ekelhaftes Stück Scheiße! Du sollst … du …«
Ihm wurde schwarz vor Augen und er musste sich an der Mauer abstützen, um nicht einfach zu Boden zu gehen. Schwer keuchend sog er die nasskalte Luft mit unsteten Atemzügen ein und fasste sich nach und nach wieder.
Ich kann nicht anders,
gestand er sich zerknirscht ein.
Ich kann mich nicht von Amalie fernhalten. Das schaffe ich nicht. Dann ersticke ich.
Er löste die Hände behutsam von der Ziegelwand, so als befürchtete er, vielleicht doch noch den Halt zu verlieren. Erst nachdem er gewiss war, fest auf beiden Beinen zu stehen, drehte er sich um und machte sich auf den Weg zurück. Länger durfte er nicht im Garten bleiben, hatte er doch behauptet, sich nur kurz die Beine vertreten zu wollen. Inzwischen hatten Amalie von Rheine, Rebekka Heinrich und Carmen Dallmeyer ihre Gitarren zweifellos fertig gestimmt. Wenn sie ihn schon einluden, als ihr Publikum zu fungieren, musste er sich dieser Ehre auch würdig erweisen und durfte sie nicht warten lassen.
Während er über den nassen Rasen stapfte und jeder seiner Schritte ein schmatzendes Geräusch verursachte, ließ Healey die Gedanken schweifen. Er stellte fest, dass er keinerlei Bild von seinem eigenen Charakter hatte. War er gut, war er böse? In Jahren der Gleichgültigkeit gegenüber seinem inhaltslosen Dasein war ihm die Wahrnehmung seines Selbst abhandengekommen. Doch vielleicht lag darin auch eine Chance. Er konnte sein Wesen neu gestalten, jemand werden, den Amalie verdiente. Ein guter Mensch, der richtig handelte. Wenn ihm nur die Gelegenheit dazu gegeben wurde.
22. Januar
Hamburg
Die Flocken waren dick und schwer, doch sie schmolzen so rasch dahin, wie sie vom Himmel fielen. Auf dem buckligen Straßenpflaster vermengten sie sich sogleich mit Pferdeäpfeln und Dreck zu einem unansehnlichen Brei, der sich wiederum in eine schmutzigbraune Brühe verwandelte. Diese rann zwischen den unregelmäßig geformten Pflastersteinen hindurch und füllte die Gosse in der Straßenmitte, in der die traurigen Überreste des Schnees zusammen mit allerlei Unrat davonflossen.
Zu beiden Seiten des Schaarsteinwegs ragten die schmalen Giebel der eng aneinandergedrängt stehenden Häuser bis zu fünf Geschosse hoch auf. Bei vielen von ihnen ragte jedes Stockwerk ein oder zwei Fuß weiter vor als das darunterliegende, so dass es den Anschein hatte, als würden sich die Fassaden aus Fachwerk und Ziegeln bedenklich nach vorne neigen. Auf manche der Jahrhunderte zählenden, vom Alter krummen Gebäude traf dies
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