Die Fahrt des Leviathan
vorhergesehen hatte, war er nicht als Einziger auf diese Idee gekommen. Trotz des wenig einladenden Wetters befanden sich zahlreiche Neugierige auf dem Wall und betrachteten von hier oben die
Leviathan.
Ihr Anblick nötigte selbst den zurückhaltenden Hanseaten immer neue Äußerungen des Staunens und der Bewunderung ab.
Das Riesenschiff lag am Westende des Niederhafens mitten in der Elbe, abseits vom stacheligen Mastenwald der Segler. Unlängst war der Fluss mit Hilfe von Dampfbaggern erheblich vertieft worden, und dennoch blieben der
Leviathan
sogar an dieser tiefsten Stelle bei Ebbe gerade einmal zwei Fuß Wasser unter dem Rumpf. Rings um sie herrschte ein geschäftiges Wimmeln wie in einem Ameisenhaufen. Pausenlos bewegten sich ganze Schwärme schwer beladener Lastkähne zwischen Ufer und Schiff, schwenkten die Arme der Kräne aus, trafen am Quai in nicht endender Kette Fuhrwerke ein und wurden durch Heerscharen von Hafenarbeitern entladen. Die fehlerlos justierte Maschinerie ruhte nie. Wenn die frühe Dunkelheit des Winternachmittags hereinbrach, leuchtete die große Kohlebogenlampe am höchsten Mast der
Leviathan
auf und überflutete die Umgebung mit hart gleißendem Licht, in dem die Arbeiten wie am helllichten Tage fortgeführt wurden.
Täubrich interessierte sich aber nicht für die Vorgänge um das Schiff. Er hielt Ausschau nach Anzeichen von Eis auf der Elbe. Kapitän Ellerbrook hatte ihm erzählt, dass der Fluss in manchen Wintern zufror und eine mächtige Eisdecke alle Schiffe auf Wochen hinaus im Hafen gefangen hielt. Lag die Leviathan unbeweglich fest, verschaffte ihm das eine gute Chance, sich ungehindert über das Eis in Sicherheit zu bringen, sobald sie in Flammen stand. Doch das würde Theorie bleiben, wie Täubrich nun erkannte. Wohin er auch spähte, die grauen Wellen der Elbe zeigten keine Neigung, in absehbarer Zeit zu erstarren. Es war einfach nicht kalt genug.
Von seinem Vorhaben brachte ihn das nicht ab. Seine Pläne waren inzwischen herangereift und benötigten nur noch ein wenig Feinschliff. Er wollte das Schiff kurz nach der Abfahrt in Brand setzen. Solange es auf der Elbe war, konnte sich die Besatzung ohne Weiteres retten. Und auch sein eigenes Überleben lag ihm zu sehr am Herzen, als dass er die Dummheit begehen würde, die
Leviathan
auf hoher See der Vernichtung preiszugeben.
Georg Täubrich stieg wieder vom Stintfang hinab und gelangte auf dem sanft gewundenen Weg direkt zum Hafen. Der Lärm, der sich von dort ausbreitete, schlug ihm schon lange vorher entgegen. Die gesamte Umgebung des Hafentors erstickte wegen der
Leviathan
in einem dichten Gedränge. Kutscher brüllten auf Plattdeutsch Unverständliches von den Böcken ihrer Fuhrwerke, Träger rollten unter ohrenbetäubendem Rumpeln eisenbereifte Mehlfässer über das Pflaster, von allen Seiten schrien Stauervizes aus Leibeskräften Befehle für ihre Trupps heraus. Der Eindruck von Chaos täuschte freilich, wie Täubrich inzwischen begriffen hatte. Alles folgte einem ausgeklügelten System, war bis ins Letzte aufeinander abgestimmt wie ein komplexer Mechanismus.
Der Arzt arbeitete sich in diesem Getümmel langsam vorwärts, bis er schließlich in eine der Gassen schlüpfen konnte, die sich wie schnurgerade Schluchten zwischen hoch aufgestapelten Baumwollballen hinzogen. Hier kam er ungehindert voran, und die dicken Wände aus Baumwolle sorgten für eine angenehm gedämpfte Geräuschkulisse.
Als er am anderen Ende wieder aus der Gasse trat, hatte er die Anleger erreicht. Um zu der bereitliegenden Barkasse zu gelangen, musste er nur noch einen Lagerplatz passieren, auf dem Mehlfässer auf ihre baldige Verschiffung zur
Leviathan
warteten. Er ging an den säuberlich aufgereihten Fässern entlang und entdeckte dabei etwas, was ihm Rätsel aufgab. Unmittelbar bei der Quaimauer sah er in einiger Entfernung zweispännige Lieferwagen stehen, vier Stück insgesamt. Auf den Seiten trugen sie die von Ornamenten umrankte Aufschrift
Telegraphen-Bau-Anstalt von Siemens & Halske.
Täubrich fragte sich, weshalb Telegrapheningenieure die
Leviathan
aufsuchten. Seines Wissens gab es dort nichts für sie zu tun. Aber andererseits hatte Knochenhauer oder wer immer im Hintergrund tatsächlich die Fäden zog, sie gewiss nicht ohne triftigen Grund kommen lassen.
»Du verdammter Vollidiot!«, brüllte jemand hinter ihm.
Täubrich zuckte zusammen und fuhr erschrocken herum. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass er überhaupt nicht
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