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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Widerspenstigkeit gab es für ihn nichts zu gewinnen, nicht in dieser Situation.
    Er ging das Deck entlang und versuchte dabei festzustellen, wo sich das Schiff gerade befand. Die
Leviathan
hatte Hamburg erst vor wenigen Stunden verlassen, somit war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie noch die Elbe hinabfuhr. Ein Blick nach Backbord bewies ihm, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. In nicht allzu großer Distanz konnte er flaches Küstenland ausmachen, nackte Baumkronen ragten hinter einem grasbewachsenen Deich auf. Am äußersten Ende einer schmalen Landzunge aus hellem Sand, die sich trotzig in die Wellen schob, stand ein turmhohes Holzgestell, dessen Spitze von einer Kugel gekrönt war. Täubrich erkannte das Seezeichen wieder. Es war die Kugelbake bei Cuxhaven, welche die unsichtbare Trennlinie zwischen Elbmündung und Nordsee markierte.
    Wie weit ist das Ufer wohl entfernt? Fünfhundert, sechshundert Fuß?,
schätzte er.
Ich könnte es versuchen. Meine Aufpasser überraschen, mit einem Satz über Bord springen. Und dann? Krepiere ich an Unterkühlung. Oder werde von der Strömung sonst wohin getrieben. Oder ertrinke einfach, weil ich ein mieser Schwimmer bin. Verdammt, nein, das ist Selbstmord.
    Er sah ein, dass ein Sprung ins Wasser keine Rettung verhieß. Doch er dachte auch nicht daran, sich schon aufzugeben. Solange Hendricks Morphiuminjektionen brauchte, war sein Leben sicher. Somit blieb ihm eine Frist von elf oder zwölf Tagen, um einen Ausweg zu finden.
    Zwölf Tage. Also rund 280 Stunden. Wie viele Minuten sind das? Wie viele Minuten noch bis zum Exitus? Oh Gott, mach dich jetzt nicht wahnsinnig. Du musst einen kühlen Kopf bewahren oder du bist mausetot.
    Er betrat durch die offene Tür das Kartenhaus. Hendricks stand am großen Kartentisch und hieß ihn mit etwas willkommen, das möglicherweise ein Lächeln darstellen sollte, aber durch den entstellten Mund des Kapitäns zu einer grausigen Karikatur geriet.
    »Guten Tag, verehrter Doktor«, begrüßte er Täubrich absurd freundlich. »Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht ins Steuerhaus bitte, obwohl es dort für Sie als passionierter Segler weit interessanter wäre. Aber ich möchte vermeiden, dass Sie dem Lotsen begegnen.«
    »Was wollen Sie von mir?«, fragte der Arzt ihn ohne Umschweife.
    Hendricks kam um den Tisch herum, platzierte sich direkt vor dem Arzt und fixierte ihn aus seinen tief in den vernarbten Höhlen liegenden Augen. »Ihnen eine Neuigkeit mitteilen, die Sie zweifellos erfreuen wird. Nach langen Erwägungen habe ich entschieden, dass ich Sie nicht töten werde.«
    »Und das soll ich Ihnen abkaufen, Hendricks? Lächerlich!«, schnaubte Täubrich.
    »Weshalb denn so argwöhnisch, Doktor? Sie haben mein Wort als Seeoffizier, kein Mensch auf diesem Schiff wird Ihnen ein Haar krümmen. Zufrieden?«
    Täubrich fragte sich, was Hendricks zu einer solchen Zusicherung bewog. Welche zynische Boshaftigkeit hatte der Kapitän ersonnen? Misstrauisch entgegnete er: »Bin ich kein unerwünschter Mitwisser? Und was ist mit Ihrem Versprechen an Weaver, mich umzubringen?«
    Hendricks machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein unmoralisches Versprechen ist nicht bindend. Und was Sie über unsere Fracht wissen, stellt keine Bedrohung mehr dar, wenn dieses Schiff erst einmal sicher sein Ziel erreicht hat. Ich erwarte nur, dass Sie sich während der Fahrt ruhig verhalten und ihren Pflichten als Schiffsarzt nachkommen. Und nehmen Sie mir nicht übel, dass ich Sie vorsichtshalber unter ständiger Bewachung halte. Erklären Sie sich dazu bereit?«
    »Also gut«, sagte Täubrich widerstrebend zu.
    Er wollte Hendricks nicht trauen.
    Aber die Aussicht auf eine noch so kleine Hoffnung war stärker als seine Skepsis.
    »Warum nicht gleich so, Doktor? Sie können sich auch gleich an die Arbeit machen. Wir sind auf See, meine Morphiumspritze ist überfällig.«
    An Hendricks’ langsam glasig werdenden Augen erkannte Täubrich, dass es tatsächlich höchste Zeit für die Injektion war. Doch wahre Sorgen bereitete ihm etwas ganz anderes. Wie sollte er bloß Amalie gegenübertreten, ohne die
Leviathan
wie angekündigt zerstört oder wenigstens Nachricht über die Ladung gegeben zu haben?
    Er glaubte zu verstehen, was ein Spartaner empfunden haben musste, der ohne Schild in Schande aus der Schlacht zurückkehrte.

2. Februar
Friedrichsburg
    Unablässig versuchte Rebekka, Amalie ein wenig aufzuheitern. Erfolg war ihr dabei nicht beschieden. Nichts vermochte die

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