Die Fahrt des Leviathan
Stimmung der jungen Lehrerin aufzuhellen, weder amüsante Anekdoten über die schrulligen Eigenarten der Bewohner Karolinas noch die verwegenen Witze von recht undamenhaftem Charakter, über die diese sonst so lachen konnte. Nicht einmal das prächtige sonnige Wetter, das wie eigens für diesen Vormittagsspaziergang gemacht schien, zeigte die geringste Wirkung auf Amalie.
Rebekka konnte es ihr nicht verdenken. Noch immer war keine Nachricht von Georg Täubrich eingetroffen. Die Ungewissheit über sein Schicksal war nervenzehrend. Die Sorgen zeichneten sich in Amalies Gesicht ab. Sie war erschreckend blass; dunkle Ringe lagen unter ihren Augen und kündeten von schlaflosen Nächten. Jedes Mal, wenn die Direktorin sie ansah, kam sie sich furchtbar hilflos vor. Dieses Gefühl war Rebekka bislang fremd gewesen. In ihrem Leben hatte sie stets die Zügel in Händen gehalten und den Lauf der Geschehnisse mitzubestimmen verstanden. Diesmal aber war alles anders. Sie hatte unwissentlich dazu beigetragen, einen Stein ins Rollen zu bringen, dessen Richtung sie nun nicht mehr beeinflussen konnte. Diese Ohnmacht verstörte sie zutiefst.
Dennoch bemühte sie sich, Haltung zu wahren. Niemandem war damit gedient, wenn sie über Grübelei und Zweifel in Lähmung verfiel, das rief sie sich immer wieder in Erinnerung. Sie musste ihr Selbstvertrauen wahren. Nur so konnte sie ihren Feinden weiterhin entgegentreten. Und nur so konnte sie Amalie eine Stütze sein.
Die beiden Frauen gingen den befestigten, von noch dünnen Bäumchen gesäumten Weg entlang, der sich am Ufer des Cooper-Flusses hinzog. Anderen Spaziergängern begegneten sie trotz des herrlichen Wetters kaum. Kaum jemand brachte an einem gewöhnlichen Vormittag Zeit zum müßigen Promenieren auf. Die meisten Bewohner Friedrichsburgs arbeiteten entweder oder hatten keine Arbeit mehr und waren daher gezwungen, irgendwie ihren kärglichen Lebensunterhalt für einen weiteren Tag zu finden.
»Ich habe übrigens für heute Abend Alvin zum Essen eingeladen«, bemerkte Rebekka, nachdem ihr Hinweis auf eine landschaftlich besonders reizvolle Stelle keinen Widerhall gefunden hatte.
Amalie blickte sie stirnrunzelnd an. »Ist das denn nötig?«
»Sie klingen nicht begeistert. Ich dachte, er wäre Ihnen sympathisch.«
»Das ist er eigentlich auch«, entgegnete die Lehrerin. »Nur in letzter Zeit … Sie laden ihn ständig ein, Rebekka. Seine fortwährende Präsenz ist so – so enervierend. Dauernd will er wissen, ob er auch nicht stört, immerzu bittet er für lächerliche Kleinigkeiten um Verzeihung. Seine Unsicherheit in allen Belangen strapaziert manchmal schon arg meine Geduld.«
Sie atmete langgezogen ein und wieder aus, wobei sich die Andeutung eines gequälten Seufzers unter das hauchende Geräusch legte. »Hinzu kommt, dass er fast nur mit mir spricht. Ob nun Sie anwesend sind oder Carmen oder sonst wer, das ist ganz gleichgültig. Er redet vorzugsweise mit mir. Das wäre nicht schlimm, doch hat er leider wenig Eigenes zu berichten und beschränkt sich meist darauf, allem und jedem, das ich von mir gebe, inbrünstig beizupflichten. Können Sie sich ausmalen, wie ermüdend das ist?«
»Vielleicht sollte ich ihn mal rücksichtsvoll auf sein Verhalten ansprechen«, schlug die Direktorin vor.
»Aber bitte sehr, sehr rücksichtsvoll«, bat Amalie. »Mir scheint, dass er ein wenig … dass er bisweilen etwas empfindsam ist. Und ich möchte um keinen Preis, dass er sich unwillkommen wähnt. Nur seine überbordende Aufmerksamkeit für mich sollte er dezent reduzieren.«
Rebekka versprach, ihre Worte mit Bedacht zu wählen und Alvin Healey gewiss nicht vor den Kopf zu stoßen. Insgeheim kam ihr dabei abermals in den Sinn, was sie bereits früher geargwöhnt hatte. Empfand Healey etwas für Amalie von Rheine, was er nicht eingestehen konnte? Sein ungeschicktes Betragen mochte ein Hinweis darauf sein. Doch Amalie hatte diese Vermutung schon einmal als lachhaft abgetan. Möglicherweise war sie damit im Recht.
Ich halte lieber den Mund,
entschied sich Rebekka.
Vielleicht sehe ich einfach Gespenster und lese aus Alvins Verhalten heraus, was ich darin unbedingt erkennen will. Im Augenblick sollte ich Amalie ohnehin besser nicht mit solchen Mutmaßungen behelligen.
Letztlich war sie überzeugt, dass es keinen Unterschied machte, ob Healey nun heimliche Verehrung für Amalie hegte oder nicht. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, dass er sicher nicht zu den impulsiven Charakteren zählte,
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