Die Fahrt des Leviathan
die ihren Empfindungen unerwartet emotionsreichen Ausdruck verliehen und dadurch peinliche Situationen heraufbeschworen. Was er still in sich trug, schadete niemandem.
Die beiden Frauen kehrten dem Fluss den Rücken und begaben sich auf den Heimweg. Sie folgten einer Allee, die zunächst nur Wiesen und Felder durchschnitt, dann vereinzelte Gärtnereien und leer stehende Villen mit brettervernagelten Fenstern passierte und schließlich von den ersten Häusern der Charlottenvorstadt gesäumt wurde.
Als sie die Töchterschule erreichten, stand dort gerade der Postbote vor der Tür, holte einige Briefe aus seiner großen Umhängetasche hervor und streckte die Hand nach dem Klingelzug aus. Noch bevor er die Türglocke betätigen konnte, stürmte Amalie auf ihn zu und riss ihm die Umschläge aus der Hand. Seine entgeisterten Proteste ignorierte sie und überließ es Rebekka, den Postboten zu beschwichtigen, während sie hastig den Stoß Briefe durchblätterte. Ihre Hoffnungen zerstoben schnell wieder. Keine der Sendungen war in Hamburg oder auch nur irgendwo in Europa aufgegeben worden.
Die Kuverts glitten ihr aus der Hand; sie stieß ein hohles Ächzen aus und musste sich an der Hauswand abstützen. Alarmiert erkundigte sich der Postbote, ob sie sich wohlfühlte. Rebekka versicherte ihm schnell, dass die kleine Unpässlichkeit ihrer Freundin allein auf das Wetter zurückzuführen sei. Durch gutes Zureden und einen Silbergroschen Trinkgeld überzeugte sie ihn, dass alles in bester Ordnung war und er ganz beruhigt seinen Weg fortsetzen konnte.
Nachdem er gegangen war, versuchte Rebekka, die aufgewühlte Lehrerin zu beruhigen. Sie fasste ihre Hand und gab sich alle Mühe, Amalie davon zu überzeugen, dass sie im Ausbleiben eines Briefes von Georg kein schlechtes Zeichen sehen durfte.
»Lassen Sie sich davon um Gottes willen nicht die Seele zerfressen. Es kann so viele absolut harmlose Gründe geben, warum keine Nachricht eintrifft«, sagte sie behutsam. »Wenn nun etwa das Schiff, das Georgs Brief an Bord hat, auf dem Atlantik einen Defekt der Dampfmaschine erlitt und deshalb unter Segeln die Überfahrt vollenden muss? Es würde erst in einer Woche oder sogar noch später eintreffen. Das Schweigen ist einfach nur ein Schweigen, es trägt keine Botschaft in sich. Weder eine gute noch eine schlechte.«
Amalie kämpfte mit den Tränen und schluckte schwer an einem Kloß, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte. Sie sah Rebekka fest in die Augen, als wollte sie ergründen, ob die Direktorin aufrichtig glaubte, was sie sagte, oder ob sie nur Trost spenden wollte. Für einige zäh verstreichende Sekunden verharrte sie in angespannter Regungslosigkeit.
Dann lösten sich ihre Gesichtszüge zögerlich. Sie räusperte sich und bat verlegen: »Bitte verzeihen Sie, dass ich mich Ihrer Post bemächtigt habe. Ich hoffe, es ist nichts schmutzig geworden.«
Sie ging in die Knie, so gut die sperrige Krinoline es zuließ, und machte sich daran, die auf dem Pflaster verstreuten Briefe aufzulesen. Rebekka gesellte sich sofort zu ihr, um ihr behilflich zu sein. »Nur keine Sorge«, zerstreute die Direktorin ihre Befürchtungen. »Das meiste davon dürften ohnehin, wie üblich, nur Prospekte dieser lästigen amerikanischen
Mail-Order
-Händler sein.«
* * *
Der Oberkellner stutzte irritiert. »Die Kalbsmedaillons?«, fragte er ungläubig nach. »Herr Major wünschen die – die Kalbsmedaillons?«
»Habe ich mich etwa unverständlich ausgedrückt?«, entgegnete Pfeyfer gereizt und schlug die ledergebundene Speisekarte zu.
Hurtig versicherte der Kellner, dass dem selbstverständlich nicht so war, bat um Vergebung, vollführte einen Bückling und machte sich sodann mit fliegenden Frackschößen auf den Weg, die Bestellung an die Küche weiterzugeben. Im Gehen wandte er sich noch einmal kurz herum und warf verstohlen einen verstörten Blick auf den Offizier.
Pfeyfer fand die Reaktion des Kellners lächerlich. Was war so außergewöhnlich daran, wenn ein Gast anstelle des Tagesmenüs ein anderes Gericht von der Karte verlangte? Aus einer spontanen Laune heraus, deren Ursprung er selber nicht kannte, hatte Pfeyfer sich nämlich auf dem Weg zum Restaurant Printz entschlossen, zum allerersten Mal von seiner Gewohnheit abzuweichen und zu diesem Mittagessen etwas anderes zu probieren als die immer gleichen sechs Gerichte, die er sonst im Verlaufe der Woche in festem Turnus verzehrte. Jetzt allerdings wünschte er sich fast, er hätte
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