Die Fahrt des Leviathan
worauf auch ihr Gesichtsausdruck hinwies. Dann runzelte sie die Stirn und resümierte irritiert: »Es passt nicht.«
»Ich verstehe nicht recht. Was meinen Sie damit?«
»Weshalb gibt Beaulieu diese Auskünfte überhaupt an die Zeitung weiter? Was bezweckt er damit, aller Welt ausdrücklich zu sagen, an welchem Tag das Schiff hier ankommt? Dafür gibt es doch gar keinen Grund.«
Nun ging auch Rebekka auf, wie seltsam diese Meldung war. »Meiner Treu! Jetzt, wo Sie es sagen … Mehl oder nicht, er muss doch damit rechnen, dass Widersacher der Konföderation versuchen, das Entladen der
Leviathan
hier im Hafen zu behindern. Und wenn das Datum der Ankunft lange vorher bekannt ist, lassen sich derartige Aktionen viel leichter vorbereiten, das müsste er doch wissen. Ist er so dumm?«
»Nach allem, was ich inzwischen über ihn weiß, ist er ein grässliches Scheusal, aber beileibe kein Dummkopf«, verwarf Amalie diese Möglichkeit. »Bleibt demnach nur Kalkül. Wenn mir auch schleierhaft ist, worin dieses Kalkül bestehen könne.«
Auch Rebekka fand hierauf keine Antwort. Nur ein sehr bizarrer Einfall kreuzte kurz ihre Gedanken. Sie hatte die Idee, dass vielleicht alles allein der Irreführung diente; dass die Welt glauben gemacht werden sollte, das Schiff führe nach Karolina, während es in Wahrheit ein anderes Ziel ansteuerte. Ihr Hirn gestattete dieser vollkommen abwegigen Idee nicht mehr als ein folgenloses Aufblitzen. Schließlich war allgemein bekannt, dass außer Friedrichsburg nur ein einziger weiterer Hafen die monströse
Leviathan
aufnehmen konnte. Und Beaulieu hatte bestimmt nicht vor, sie als Geschenk an die Nordstaaten nach New York zu schicken.
* * *
Der hagere General ging in gemächlichem Tempo die Chaussee entlang. Mit einer Hand hielt er seinen Zylinder fest, denn ohne Unterlass wehte ein kühler Nordwind. In der anderen trug er eine Militärkarte, zu zweckmäßiger Größe gefaltet. An bestimmten Stellen, die er vorab mit sauberen Kreuzchen markiert hatte, blieb er stehen und studierte das umgebende Gelände. Mit besonderer Aufmerksamkeit registrierte er alles, worüber die Landkarte entweder keinen Aufschluss gab oder was fehlerhaft dargestellt war. Nichts war ihm dabei zu unbedeutend; er wollte sich ein möglichst genaues Bild von den Gegebenheiten machen.
Ein oberflächlicher Betrachter hätte die Ebene eine Meile westlich der Stadtgrenze Friedrichsburgs kurzerhand als uninteressante Ansammlung winterlich brachliegender Felder abgetan und ihr dann den Rücken gekehrt. Der General aber las in der Landschaft wie in einem Buch. Die Karte, die sich dabei in seinem Kopf formte, hatte wenig mit der auf Papier gedruckten gemein. Sumpfige Wassergräben und Dornenhecken bildeten für ihn ein verschachteltes System von Hindernissen für vorrückende Einheiten, Bodenwellen und niedrige Begrenzungsmauern hingegen nahm er als Linien wahr, an denen Männer Deckung nehmen und sich verteidigen konnten.
Neben der von Alleebäumen gesäumten Chaussee verlief die von Savannah kommende Eisenbahnstrecke. Der General stellte fest, wie verwundbar die auf einem niedrigen Bahndamm verlegten Gleise hier waren. Einige Schienen zu entfernen, wäre bloß eine Sache von Minuten und erforderte nicht einmal nennenswerten Aufwand. Es war ein Ort, an dem man einen Zug voller Soldaten zum Halten nötigen und dadurch die Männer zwingen konnte, im offenen Gelände weiterzumarschieren. Ein gefährlicher Ort.
Der General erreichte einen brusthohen Meilenstein, auf dem die Entfernungen nach Friedrichsburg und einer Anzahl weiterer karolinischer Städte in preußischen und amerikanischen Meilen eingemeißelt waren. Er hielt inne, erfasste scharfäugig die Merkmale der Umgebung und machte dann kehrt, um den Rückweg nach Friedrichsburg anzutreten. Alles, was hier für ihn von Interesse war, hatte er gesehen.
1. Februar
Auf der Elbe
Zum ersten Mal nach über einer Woche gelangte Georg Täubrich aus dem dämmrigen Halbdunkel seiner Kabine wieder ins Freie. Der Sonnenschein blendete ihn, als er aus dem Treppenaufgang trat. Er blieb stehen, damit sich seine schmerzenden Augen zunächst an die Helligkeit gewöhnen konnten, doch die zwei NeitherNors, die ihm mit schussbereiten Revolvern folgten, stießen ihn rücksichtslos vorwärts. Täubrich strauchelte und sah sich schon auf die Decksplanken stürzen, konnte sich aber gerade noch fangen.
Seine Bewacher befahlen ihm, zum Kartenhaus zu gehen. Wortlos gehorchte er. Durch
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