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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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nur gelegentlich schlichen sich unversehens kantige Laute ein und verrieten, dass in Wirklichkeit das Deutsche seine Muttersprache war.
    »Nichts liegt mir ferner, als Ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen«, versicherte ihm der Präsident, der noch immer darum kämpfte, die wild durch seinen Kopf jagenden Gedanken zu bändigen. Nun begriff er auch, weshalb sein Besucher auf einer streng vertraulichen Audienz nach Einbruch der Dunkelheit bestanden hatte. Wer mit solchen Mitteilungen ins Weiße Haus kam, tat gut daran, ungesehen zu bleiben. »Doch was Sie mir soeben schilderten, ist von unglaublicher Tragweite. Offen gesagt komme ich mir angesichts Ihrer Eröffnungen vor wie eine Ente, der man auf den Kopf geschlagen hat und die nun vorne nicht von hinten zu unterscheiden weiß.«
    Für einen Augenblick trat ein Ausdruck verständnisloser Irritation in die würdevolle Miene des Besuchers: »Eine Ente?
Why a duck?
Oh, ich verstehe. Eine Metapher, natürlich.«
    Lincoln rückte den toten Arm in der Trageschlaufe zurecht und erhob sich aus dem Sessel. Sein Gegenüber schickte sich an, der Etikette gemäß gleichfalls aufzustehen; doch der Präsident bat ihn, Platz zu behalten. Stumm nachsinnend trat er ans Fenster und zog den schweren Samtvorhang einige Zoll beiseite. Hinter den beschlagenen Scheiben breitete sich tintenschwarze Finsternis aus.
    »Am dreizehnten dieses Monats wird die
Leviathan
also vor der Küste New Yorks liegen«, sagte er, während er in die Nacht hinausblickte.
    »Möglicherweise auch einen Tag früher oder geraume Zeit später«, ergänzte der Besucher. »Die Unwägbarkeiten einer Atlantiküberquerung lassen bedauerlicherweise keine präzise Vorhersage zu. Ihre Kriegsmarine sollte daher die genannte Position aus hinreichender Distanz im Auge behalten.«
    Lincoln ließ den Vorhang zufallen und wandte sich wieder seinem Gast zu. »Und die Navy muss dann die
Leviathan
nur noch sicher in den Hafen von New York schleppen. So wie ein Farmer ein herrenloses Kalb mit dem Lasso einfängt und in den eigenen Stall bringt.«
    Allein ein diffuser Unterton in seiner Stimme deutete an, dass ihm bei dieser Sache nicht vollkommen behaglich zumute war. Ein schattenhaftes Gefühl der Beklommenheit ließ ihn nicht los, wenn es auch keine feste Gestalt annahm. Etwas in ihm sträubte sich gegen das Vorhaben, das der Besucher an ihn herangetragen hatte. Doch er war niemand, der sich von einer substanzlosen Ahnung leiten ließ. Nicht, wenn so unsagbar viel auf dem Spiel stand.
    »Ich werde gleich morgen alles Notwendige veranlassen«, sagte er zu. »Diese Angelegenheit kann von entscheidender Bedeutung für den Ausgang des Krieges sein. Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.«
    Sein Gast stand auf, strich mit einer kurzen Handbewegung den hechtgrauen Gehrock glatt und räusperte sich. »Ich tue nur meine Pflicht, Exzellenz«, entgegnete er bescheiden, wobei er den ergrauten Kopf in einer angedeuteten Verbeugung neigte.

3. Februar
Friedrichsburg
    Der hagere General schlenderte ohne erkennbare Eile das Trottoir entlang. Niemand schenkte dem ältlichen Herrn im nur leidlich gut sitzenden Gehrock besondere Beachtung. Er wusste genau um seine Unauffälligkeit und machte sie sich seit Tagen gezielt zunutze, um sich ganz offen ein präzises Bild gewisser Orte zu machen.
    An diesem Vormittag verschaffte der General sich einen Eindruck von der Kaserne des 1. Karolinischen InfanterieRegiments. Den Dienstplan der Einheit hatte er bereits in seinen Besitz gebracht und sich sorgfältig eingeprägt; er konnte auswendig hersagen, welche Offiziere gegenwärtig für welche Funktionen eingeteilt waren. Im entscheidenden Moment mit den Namen der richtigen Personen aufwarten zu können, erleichterte so manches ganz ungemein. Namen wirkten bisweilen wie Zauberformeln.
    Die Kaserne war ein Bau von unspektakulärer Hässlichkeit, der sich zur Straße hin als lang gestreckter massiger Ziegelwall mit ermüdend einförmigen Reihen schießschartenartig schmaler Fenster präsentierte. Den Sims krönten angedeutete Zinnen, die der öden Fassade vermutlich einen Anstrich mittelalterlicher Trutzigkeit verleihen sollten, aber nicht über die armselige Rolle plump aufgepfropften Beiwerks hinauswuchsen. Freilich interessierte sich der General, der seinen alles erfassenden Scharfblick hinter einer Maske gedankenverlorener Zerstreutheit zu verstecken wusste, nicht für die Architektur des Kasernenkomplexes. Ihm kam es einzig darauf an, die Lage

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