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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Herr Major. Thompson tritt zur Stunde im
Victoria-Theater
auf. Danach wird er –«
    Das genügte Pfeyfer. Er stürzte hinter dem Schreibtisch hervor, riss Mantel, Mütze und Degenkoppel vom Kleiderständer und erteilte FliegenderSchwarzer-Adler noch hastig den Befehl, bis zu seiner Rückkehr zu übernehmen. Dann stürmte er zur Tür hinaus.
     
    »Nun verhält es sich aber so, Monsieur«, erklärte der Polizeikommissar, »dass besagter Monsieur Jault sich als Erpresser betätigte.«
    Grisard riss in höchstem Erstaunen die Augen weit auf: »Nein!«
    »Doch«, versicherte der Kommissar.
    »Oooh!« Grisard stieß den Laut mit maßlos überzogener Verblüffung hervor.
    Das Publikum brach in schallendes Lachen aus und spendete begeistert Szenenapplaus. Pfeyfer, der das Geschehen auf der Bühne aus den Seitenkulissen verfolgte, konnte nicht im Geringsten nachvollziehen, was die Zuschauer so erheiterte. Er fand die Komödie läppisch und Cedric Socrates Thompson in der Rolle des zappeligen, cholerischen Literaten Antoine Grisard unerträglich albern. Überhaupt vermochte er französischen Farcen nichts abzugewinnen. Sie waren ihm durchweg zu seicht, zu frivol. Andererseits aber wusste er auch nichts mit der tiefgründigen Gedankenschwere deutscher Schauspiele anzufangen. Er war halt kein Mann der Künste. Eine Inszenierung, die ihn beeindrucken sollte, musste auf einem Exerzierplatz stattfinden.
    Der erste Akt ging zu Ende, unter brausendem Beifall senkte sich der Vorhang. Mit geschlossenen Augen genoss Thompson das Klatschen, das gedämpft durch die Wand aus schwerem Stoff drang. Eigentlich sehnte er sich nach einer Viertelstunde Ruhe in seiner Garderobe, weil er von fürchterlichem Kopfweh geplagt wurde und jedes Geräusch seine Trommelfelle malträtierte. Aber für den Applaus nahm er gerne noch einige Sekunden des Leidens auf sich.
    »Thompson!«
    Der barsche Ruf ließ ihn zusammenfahren. Aufgeschreckt wandte er sich um und sah in den Kulissen einen schwarzen Offizier, der ihn bedrohlich streng fixierte. Er erkannte ihn als Major Pfeyfer, den Kommandeur des Militär-Sicherheits-Detachements. Eine unheilschwangere Vorahnung überkam den Schauspieler.
    »Sie begleiten mich unverzüglich zum Verhör«, wies ihn der Major gebieterisch an. »Ich weiß um Ihr Geheimnis. Versuchen Sie also gar nicht erst, mir Lügen aufzutischen!«
    Schrecken überfiel Thompson. Er begriff sofort. Der Major hatte irgendwie von seiner Ausbildung in Mathildenruh erfahren. Binnen eines einzigen Augenblicks verwandelte sich das Abenteuer in einen Albtraum.
    Ängstlich wich der Schauspieler einen Schritt zurück, suchte fieberhaft nach Ausflüchten, brachte aber keinen Laut über die zitternden Lippen. An seinem ganzen Körper trat jäh kalter Schweiß aus der Haut. Die schrecklichsten Horrorvisionen von dem drohenden Verhör fegten durch sein Hirn. Er fühlte Panik in sich aufsteigen.
    Major Pfeyfer trat aus den Kulissen, die rechte Hand auf dem Griff des Degens und bereit, in Sekundenschnelle die Klinge zu ziehen. »Ich rate Ihnen dringend, keinen Widerstand zu leisten«, sagte er finster.
    Plötzlich, wie aus dem Nichts, machte Thompson einen Sprung nach vorne. Es gelang ihm, den überrumpelten Major beiseitezustoßen und hinter die Bühne zu rennen. Pfeyfer setzte ihm nach, verfolgte ihn durch die mit Requisiten vollgestellten engen Gänge.
    »Stehen bleiben!«, brüllte er ihm hinterher. Doch Thompson dachte gar nicht daran. Er lief wie von einer Meute gehetzt weiter. Sein Ziel war der Bühnenausgang. War er erst einmal aus dem Theater entkommen, hatte er es geschafft. Dann konnte er im Gewimmel der Straßen untertauchen. Die Rettung war zum Greifen nahe.
    Seinen Verfolger dicht hinter sich, erreichte Thompson die weit offen stehende Ausgangstür. Er rannte am perplexen Bühnenpförtner vorbei blindlings hinaus ins Freie. Und geriet sofort unter die Hufe zweier schwerer Kaltblüter, die einen Lastwagen zogen.
    Nur Sekunden später kam Pfeyfer aus dem Theater gestürzt. Doch da war alles bereits geschehen. Thompson lag mit zerschmettertem Körper unter dem Fuhrwerk und spie bei jedem Atemzug eine zähe Mischung von Blut und Speichel auf das Pflaster.
    So schnell er konnte, zog der Major den Schwerverletzten zwischen den Rädern hervor und befahl dem Kutscher, schnellstens einen Arzt zu holen. Während sich ringsum eine Traube von Neugierigen bildete, schrie Pfeyfer zornentbrannt auf den Sterbenden ein: »Wer hat Friedrich Heinze erschossen?

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