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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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die Decke zurück, stieg aus dem Bett und tastete sich, noch immer ganz in seine fiebrigen Grübeleien vertieft, die unbeleuchtete Treppe hinab. Plötzlich verfehlte sein linker Fuß eine der krummen Stufen. Er verlor den Halt, stürzte vornüber in die schwarze Leere und polterte die Stiege hinab, bis er am Fuß der Treppe mit einem harten Aufprall auf dem Boden landete.
    Sein Körper schmerzte, als wäre jeder einzelne Knochen gebrochen. Healey wagte nicht, sich zu rühren, und verharrte regungslos in einer grotesk verdrehten Haltung. Sein Herz raste, bei jedem Atemzug war ihm, als durchstießen glühende Messer seinen Leib.
    Oh Gott, es hört nicht auf, es hört nie mehr auf!,
wimmerte er stumm; kein Laut drang aus seinem weit aufgerissenen Mund.
Warum ich! Warum trifft mich das? Es soll aufhören, aufhören!
    Und mit einem Mal, wie ein Blitz in der Nacht, durchfuhr es ihn. Als hätte der Sturz eine Tür in seinem Geist aufgebrochen, die sein ganzes bisheriges Leben fest verriegelt gewesen war und ihm den Blick auf die Wahrheit versperrt hatte. Eine Sturmflut von Erkenntnissen raste entfesselt durch sein Hirn, beschwor Kaskaden von Bildern und Stimmen herauf, drohte seinen Verstand fortzureißen.
    Das tosende Chaos währte bloß einen Augenblick. Doch als es wieder aus Healeys Kopf verschwand, war er nicht mehr der Mensch, der er noch Sekunden zuvor gewesen war. Er sah die Sklaverei.
    Nie hatte er sich mit der Sklaverei auseinandergesetzt, sein ganzes Leben lang nicht. Wohl über hundertmal musste er Zeuge geworden sein, wie Sklaven mit vernarbten Rücken auf Feldern schufteten, in Ketten und Halseisen zum Verkauf getrieben wurden oder für nichtige Vergehen zur Abschreckung blutig gepeitscht wurden. Nichts davon hatte ihn je zum Nachdenken bewegt. Die Sklaverei war für ihn stets nur ein beliebiger weiterer Teil einer Welt gewesen, vor der er sich hinter einer Mauer aus Gleichgültigkeit verkroch.
    Schmerzen! Schmerzen, Dunkelheit, Angst für Millionen Menschen, ohne Hoffnung auf ein Ende. Und ich? Oh Scheiße, ich bin erbärmlich!
    Jetzt erst begriff er Amalie von Rheines Ekel. Wie sehr sie die Sklaverei und die Plantagenbesitzer des Südens verabscheute, wusste er natürlich schon lange. Doch nun sah er, was er bislang nicht hatte sehen können. Er kam aus den Südstaaten. Er arbeitete für die konföderierte Regierung. Musste ihn das nicht in den Geruch bringen, ein willfähriger Gefolgsmann oder sogar überzeugter Anhänger der Sklavenhalter zu sein? Sie konnte gar nicht anders, als ihm mit Argwohn und Ablehnung zu begegnen.
    Und ich verdiene es nicht besser. Das ist die Strafe für lebenslange Ignoranz.
    Das Dilemma, vor dem er sich wiederfand, war noch weitaus schlimmer als die vorhergehende Ratlosigkeit. Er musste Amalie von Rheine zeigen, dass er trotz seiner Herkunft die Sklaverei als widerliches Monstrum erkannt hatte. Doch wie sollte er das anstellen, ohne dass es wie ein opportunistisches Lippenbekenntnis erschien?
    Worte sind zu schwach. Ich muss Taten sprechen lassen,
sah Healey ein.
Nur welche? Kleine Gesten würden wie Heuchelei wirken. Nur große Taten sind ehrlich. Und was kann ich schon Großes tun?
    Vorsichtig erhob Healey sich vom Boden. Wider Erwarten hatte er sich nicht ernstlich verletzt, wenn ihm auch jede Faser seines Körpers auf die kleinste Bewegung mit brennendem Stechen antwortete. Der Durst war ihm vergangen. Langsam schleppte er sich die Treppe wieder hinauf.

Washington
    Abraham Lincoln konnte kaum fassen, was sein Besucher ihm offenbarte. Bei jedem anderen hätte er dergleichen mit nachsichtigem Lächeln als fiebrige Phantastereien eines überspannten Gemüts abgetan. Doch diesem Mann, der ihm in dem anderen Sessel gegenübersaß, lagen Hirngespinste unverkennbar so fern wie einem Wal das Fliegen. Er war geradezu die personifizierte Nüchternheit. Sein Gesicht trug respektgebietende aristokratische Züge, die vom schütteren weißen Haar noch betont wurden; Auftreten und Habitus wiesen ihn als hochrangigen Beamten aus, der ganz in der Erfüllung seiner Pflichten für Staat und Krone aufging. Eine Aura von Gravität und bürokratischer Sachlichkeit, untrennbar miteinander verschmolzen, umgab ihn. An seinen Worten zu zweifeln verbat sich ganz von selbst.
    »Unglaublich«, murmelte Lincoln von Staunen überwältigt.
    »Nichtsdestoweniger entspricht es in jeglicher Hinsicht den Tatsachen, Exzellenz«, bekräftigte der Gast. Sein geschliffenes Englisch klang überaus distinguiert;

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