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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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drehte das Schiff bei und nahm Fahrt auf, bis es mit der Nacht verschmolz.
    Für eine Weile hallten noch verzweifelte Rufe über das Meer. Sie wurden bald schwächer und verstummten dann ganz. Stille kehrte ein.
     
    * * *
     
    Kurz nach Sonnenaufgang trafen sechs Schiffe der US Navy, angeführt von der Fregatte USS
Longwoods,
bei der
Leviathan
ein. Erst mit Flaggensignalen, dann auch mit Rufen aus nächster Nähe versuchte man Kontakt aufzunehmen, doch jegliches Lebenszeichen blieb aus.
    Besorgt ließ Captain Muller die
Longwoods
schließlich neben dem haushohen Backbordschaufelrad längsseits gehen. Hier befand sich auf halber Höhe des Rumpfes eine große Plattform an der Verkleidung des Schaufelrads, von der eine Treppe zum Oberdeck hinaufführte und die eigentlich Passagieren das bequeme Betreten und Verlassen des Schiffes im Hafen erlaubte. Von der Fregatte wurde ein Fallreep ausgebracht und ein Trupp Marineinfanteristen ging hinüber an Bord des Ozeanriesen.
    Als die Marines das Deck erreichten, entdeckten sie zu ihrem Entsetzen die Leichen der Mannschaft. Sie fanden die Toten mit Pistolen und Gewehren in den steifen Händen vor; alles deutete klar darauf hin, dass sich die Männer im erbitterten Streit um die Auslieferung des Schiffes gegenseitig niedergemetzelt hatten.
    Bei aller Bestürzung über diese unfassbare Tragödie vergaßen die Amerikaner allerdings nicht, mit welcher Absicht sie gekommen waren. Ein Kommando Matrosen wurde von Muller dazu abgestellt, die Leichname auf dem Achterdeck zusammenzutragen und mit Planen aus Segeltuch abzudecken, während zugleich die Kriegsschiffe die
Leviathan
in Schlepp nahmen. Unter Volldampf zogen sie den schwerfälligen eisernen Giganten hinter sich in Richtung New York.
     
    Es war Mittag, als die Flottille mit der
Leviathan
im Schlepptau die Südspitze Manhattans passierte und in den East River einlief. Hier übernahmen Hafenschlepper das monströse Schiff und bugsierten es unter den neugierigen Blicken zahlloser Schaulustiger an den Grand Street Pier, den einzigen Anleger, der den Koloss aufnehmen konnte. Die Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile in der Stadt, allerlei Gerüchte machten die Runde und immer mehr Neugierige strömten zum Hafen, um mit eigenen Augen die enorme von der Navy eingebrachte Trophäe zu sehen.
    Ein einziger Mann war von dem Erscheinen der
Leviathan
nicht überrascht. Er hatte in den letzten Tagen Stunde um Stunde auf der Uferpromenade an der Battery verbracht und bei beißender Winterkälte auf genau diesen Moment gewartet. Nun gab er im Büro der Western-Union-Telegraphengesellschaft eine Nachricht auf, die nur aus dem zuvor verabredeten Codewort
Caligula
bestand. Noch während die
Leviathan
am Pier vertäut wurde, jagte die Botschaft bereits mit unermesslicher Geschwindigkeit durch Kupferdrähte nach Washington. Dort erwartete ein Gentleman die Ankunft der Nachricht, um sie in scharfem Ritt über den Potomac und weiter nach Virginia zu tragen. Dank seiner Papiere, die ihn als Angehörigen des diplomatischen Corps einer bedeutenden europäischen Macht auswiesen, würde er die Linien sowohl der Unionstruppen als auch der Südstaatler ungehindert passieren können und durfte sogar darauf rechnen, mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt zu werden. Von der ersten Telegraphenstation auf konföderiertem Gebiet sollte die Meldung dann in Windeseile nach Friedrichsburg und Savannah gelangen.
     
    Von der minutiös vorausgeplanten Kette der Ereignisse, die gerade ihren Anfang genommen hatten, ahnte Georg Täubrich nichts. Er saß in der geheimen Kabine und wartete auf eine Gelegenheit, sich von seinen Fußfesseln zu befreien. Eine halbe Minute, mehr benötigte er ja gar nicht, um mit dem Skalpell das Seil zu durchtrennen. Aber Hendricks ließ ihn nie lang genug aus den Augen.
    Der Kapitän blickte kurz durch das Bullauge auf die Menschen, die sich auf der am Flussufer verlaufenden Tompkins Street drängten, um die
Leviathan
zu sehen. »Glotzt ruhig wie die Dorftrottel, Yankees«, spuckte er sarkastisch hervor. »Wenn ihr wüsstet!«
    »Ihr irrsinniger Plan kann unmöglich gelingen«, versuchte Täubrich ihm eindringlich klarzumachen. »Die werden doch Fässer öffnen und herausfinden, dass darin kein Mehl ist!«
    Hendricks zeigte sich nicht im Mindesten beunruhigt. »Natürlich. Dann freuen sich diese Kretins wie besoffene Nigger, weil sie glauben, sie hätten dem Süden eine Unmenge kostbares Schießpulver abgejagt. Sie sperren das Schiff ab,

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