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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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dunkelster Selbstvorwürfe: »Ich habe Georg da hineingetrieben. Ich b-bin schuld, wenn ihm etwas zugestoßen ist!« Ihre Zunge war schon schwer vom Alkohol.
    »Nur gut, dass Carmen noch immer auf Verwandtenbesuch ist«, murmelte Rebekka mit gleichfalls nicht mehr klarer Stimme. Sie überlegte kurz, ob sie die Whiskeyflasche wieder verkorken sollte, ließ sie aber dann gleich offen. »Weder ihre Fragen noch ihre sorgende Einfühlsamkeit könnte ich jetzt ertragen.«
    »Ich will überhaupt niemanden sehen. Niemanden!«, entgegnete Amalie bitter und griff nach dem Glas.
    Just in diesem Moment wurde die Glastür zur Terrasse geöffnet und Alvin Healey trat heraus, in der Hand einen Blumenstrauß von enormer Größe. »Einen wunderschönen guten Abend, meine hochverehrten Demoiselles«, begrüßte er die Lehrerinnen freudestrahlend. »Ich hoffe, mein unangekündigter Besuch an diesem herrlichen Tag kommt nicht ungelegen.«
    Sein Auftritt wirkte auf Amalie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und brüllte den hereingeplatzten Südstaatler in einem Ausbruch von Zorn aus Leibeskräften an: »Raus! Raus, aus meinen Augen! Verschwinden Sie!«
    Healey erstarrte. Da holte Amalie aus und schleuderte wutentbrannt das Glas nach ihm. Es verfehlte ihn um mehr als drei Fuß und zerschellte an der Hauswand, doch der Schrecken reichte aus. Healey ließ den Strauß fallen und rannte ins Haus zurück.
    Für einige Sekunden blieb Amalie regungslos stehen. Dann sackte sie auf den Stuhl, vergrub den Kopf in den Händen und schluchzte haltlos.

Hutchinson Island, Savannah
    Mit einem Mehlsack auf dem Rücken durchstreifte Wilhelm Pfeyfer das Lager der 62nd Georgia Volunteer Infantry. Er hatte sich nach seiner Ankunft in Savannah mit einem zerrissenen Hemd und vielfach geflickten groben Leinenhosen als Sklave getarnt, um ungehindert in die Militärbasis zu gelangen. Sein Kalkül war aufgegangen; die Wachen kontrollierten zwar jeden Weißen, beachteten jedoch die Neger kaum.
    Pfeyfer musste auch nicht befürchten, als unbekanntes Gesicht Misstrauen zu erregen, denn Hutchinson Island wimmelte nur so von Sklaven. Viele der Soldaten des Freiwilligenregiments waren wohlhabende Männer, die ihre eigenen Diener mitgebracht hatten. Hinzu kamen zahlreiche Schwarze, die sämtliche im Lager anfallenden schweren oder schmutzigen Tätigkeiten verrichteten. Daher konnte Pfeyfer sich ganz offen bewegen, ohne aufzufallen. Er musste natürlich ständig achtgeben, sich nicht durch falsches Verhalten zu verraten. Doch über die Jahre hatte er bei dienstlichen Reisen nach Washington häufig genug Sklaven beobachten können, um ihr typisches Auftreten imitieren zu können. Geschäftig sein, um Peitschenhieben für Faulheit zu entgehen; aber nicht zu geschäftig, da Leistung, die über das unbedingt Nötige hinausging, doch nicht belohnt wurde. Immer mit gesenktem Blick umhergehen, gefangen zwischen resignierter Schicksalsergebenheit und Verzweiflung. Stumpfen Gehorsam vorspiegeln und dabei die Sehnsucht nach Auflehnung im Innersten tragen.
    Leicht fiel es Pfeyfer keineswegs, diese ihm so unendlich fremde, demütigende Rolle durchzuhalten. Aber er zwang sich verbissen zur Disziplin. Ihm war klar, dass er nur dann eine Chance hatte, diese Insel jemals wieder zu verlassen und zu Rebekka zurückzukehren, wenn er sich keinen noch so unscheinbaren Fehler erlaubte. Pfeyfer begann den Sack, der mit jeder Minute schwerer zu werden schien, zu verwünschen. Da am Grenzbahnhof gerade ein Zug mit Mehl aus Friedrichsburg, bestimmt für das Regiment, entladen wurde, hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich unter die Sklaven gemischt und einen der Säcke auf den Rücken genommen. Nun schmerzte sein Kreuz und trotz der heraufziehenden Kühle des Abends rannen ihm ganze Bäche von Schweiß über die Stirn und vermengten sich mit Mehlstaub. Dennoch trennte er sich nicht von seiner Last; wenn er erkennbar schwer schuftete und vollauf beschäftigt erschien, war die Gefahr geringer, dass ein Weißer ihn behelligte.
    Im dämmrigen Halblicht des Abends ging Pfeyfer zwischen den Baracken entlang. Er hatte endlich in Erfahrung gebracht, wo sich Charles Beaulieu s Quartier befand. Nun wurde es ernst. Er wollte den Südstaatler überraschen und in seine Gewalt bringen, sowie sich nur eine Gelegenheit ergab.
    Pfeyfer erreichte die Hütte, an deren Tür ein Schild mit der Aufschrift
Col.
Beaulieu
prangte. Aber er stellte sofort fest, dass die Situation

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