Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
nacheinander auf verschiedene Stellen von Täubrichs Körper. »Du kannst schnell sterben, wenn das Schiff hochgeht. Oder du bekommst einen Tod, bei dem du glaubst, du verreckst hundert Jahre lang. Ich weiß, wohin ich schießen muss, damit du verdammt langsam draufgehst. Und so qualvoll, dass du mich anbetteln wirst, dir eine Kugel in deinen Scheißschädel zu jagen. Du hast die Wahl.«
    Täubrich blickte angststarr auf die Mündung des Colts; am ganzen Leib trat ihm kalter Schweiß aus den Poren. Er wusste, dass Hendricks nicht übertrieb.
    Doch um nichts in der Welt wollte er mitschuldig werden an dem Inferno, das dieser Mann heraufbeschwor.
    Da blitzte in Täubrich etwas auf. Nur ein winziger Funke, doch er wies ihm den Weg. Und dann wusste er, was er zu tun hatte. Er konnte unzählige Leben retten, vielleicht sogar sein eigenes. Wenn er die Nerven bewahrte.
    »Nein, nicht«, keuchte er in Panik. »Was immer Sie wollen, aber schießen Sie nicht!«
    »Vernünftig«, meinte Hendricks finster. Er steckte die Waffe wieder ein und zerrte an den Enden von Täubrichs Handfesseln, bis der Knoten sich löste und das Seil sich abwickeln ließ.
    »Die Füße bleiben gefesselt, damit du nicht aufspringen und mich anfallen kannst«, sagte der Kapitän. »Und wenn du irgendwelche Dummheiten versuchst, bist du dran, kapiert? Jetzt mach dich an die Arbeit, sofort!«
    Rasch zog Täubrich die Tasche zu sich heran, öffnete die Verschlüsse und durchsuchte hektisch den Inhalt. Er gab sich aufgewühlt und fahrig, um Hendricks in Sicherheit zu wiegen. Doch in Wahrheit waren seine Finger so geschickt wie selten zuvor. Unbemerkt ließ er ein Skalpell in seine Hemdmanschette gleiten. Dann holte er das Etui mit der Morphiumspritze heraus.
    Hendricks atmete erleichtert auf.
     
    Mit voller Kraft hielt das Dampfbeiboot der
Leviathan
südwärts. Die NeitherNors an Bord sprachen kaum ein Wort; zu ergriffen waren sie noch immer von dem heroischen Opfer, das Augustus Hendricks brachte. Vielen standen Tränen in den Augen, kaum einer wagte zurückzublicken auf das Schiff, das nur als heller Lichtfleck in weiter Ferne erkennbar war.
    Zu der Bewunderung für den heldenmütigen Kapitän gesellte sich bei den Männern ein rasch anwachsendes Hochgefühl. Sie hatten Anteil an etwas Großem gehabt, und das erfüllte sie mit unbändigem Stolz. Allerdings konnte selbst die erhebende Aussicht auf den nahen Triumph der Konföderation und die baldige Befreiung South Carolinas nicht verhindern, dass sie alle in dieser frostigen Februarnacht erbärmlich froren. Doch sie ertrugen die Eiseskälte klaglos. Ein wenig Zähneklappern erschien ihnen als lächerlich geringer Preis für das, was sie erreicht hatten. Zudem wussten sie, dass ein warmes Quartier bereits zum Greifen nah war. Vor sich konnten sie in einiger Distanz schon ganz deutlich zwei weiße und drei rote Positionslaternen ausmachen. Das war das Erkennungszeichen des österreichischen Dampfschoners SMS
Narenta,
der sie aufnehmen würde.
    Das Beiboot wurde langsamer und näherte sich dem österreichischen Kriegsschiff, das sich erst nur als undeutlicher Schemen aus der Nacht löste und dann im fahlsilbernen Mondschein immer deutlichere Formen annahm.
    Als die NeitherNors nur noch etwa hundert Fuß von der
Narenta
entfernt waren, tönte von dem Schoner eine Stimme mit kantigem deutschem Akzent blechern durch ein Megaphon: »Ahoi! Folgt noch ein weiteres Boot?«
    »Nein«, rief Weavers Chefredakteur Crompton, der die Führung der NeitherNors übernommen hatte, so laut er konnte zurück. »Nur dieses eine. Wir sind bereit, an Bord zu kommen.«
    Er erhielt keine Antwort und fragte sich bereits, ob man ihn vielleicht nicht verstehen konnte. Dann aber hörte er, wie sich auf dem Kriegsschiff etwas tat. »Gentlemen, gleich geht es ins Warme«, sagte er erfreut zu seinen Leuten.
    Da krachte es ohrenbetäubend und das Mündungsfeuer eines Geschützes blitzte auf der
Narenta
auf. Ein Geschoss traf das Beiboot fast genau in der Mitte. Wer bei der Einschlagstelle saß, wurde mit den Planken zerschmettert. Anderen bohrten sich gesplitterte Holzstücke in die Gesichter. Der geborstene Rumpf brach auseinander. Wie ein Stein sank das Boot und zog die Männer mit sich ins eisige Wasser.
    In nackter Panik schrien die NeitherNors, strampelten mit Armen und Beinen um ihr Leben. Wer nicht schwimmen konnte, verschwand sofort in den schwarzen Wellen. Die anderen brüllten nach Rettung, flehten, kreischten. Vor ihren Augen

Weitere Kostenlose Bücher