Die Fahrt des Leviathan
das durch die staubigen Fensterscheiben nur gedämpftes Morgenlicht fiel und den großen Raum in kaum mehr als schummeriges Halblicht tauchte, entdeckte sie beim Eintreten niemanden.
Dafür schienen beim Schreibtisch zwei große Wäscheberge auf dem Boden aufgehäuft zu sein, was ihr recht ungewöhnlich vorkam.
Doch als sie näher trat, erkannte sie entsetzt die Wahrheit. Vor ihr lagen Alvin Healey und Jeremiah Weaver leblos in einer Lache von Blut. Sie schrak zusammen; ein Schrei blieb in ihrer Kehle stecken.
Fast wäre sie von Panik erfasst hinausgerannt. Doch da hörte sie ein Röcheln. Es kam von Healey. Er lebte. Doch er konnte kaum noch die Augen öffnen. Als er zu sprechen versuchte, rann Blut aus seinem Mund; er verschluckte sich und hustete. Rasch ging Amalie neben ihm in die Knie und hob vorsichtig seinen Kopf an. »Mein Gott«, flüsterte sie fassungslos. »Alvin, Sie dürfen jetzt nicht sprechen! Wir holen Hilfe.«
»Nein … bitte hören Sie mir zu!«, ächzte Healey und blickte sie flehentlich an. »NeitherNors wollen den – den Prinzen gefangen nehmen. Und aus Savannah soll eine Armee einfallen. Warnen Sie den Prinzen. Versprechen Sie es!«
»Ja, ja, ja! Aber Sie müssen ruhig sein, ruhig!«, bekniete Amalie ihn.
»Ich hoffe Sie sind … stolz auf mich. Nur ein klein wenig«, presste er mühevoll hervor.
»Das bin ich, Alvin. Das bin ich«, beteuerte Amalie; ihre Stimme war tränenerstickt. »Unendlich, unendlich stolz.«
»Ich … da ist noch was … ich habe Sie geliebt. Vergeben Sie mir …« Seine Worte wurden leiser und erstarben.
Amalie verharrte regungslos. Sie sah in Healeys erloschene Augen, hielt seinen Kopf in den Händen, starr wie eine Statue. Tränen rannen über ihre Wangen.
Erst nach langen Minuten vermochte sie sich wieder zu bewegen. Behutsam legte sie Healeys Kopf auf den Boden und schloss ihm die Lider. Dann erhob sie sich. Ihre Beine schienen unter ihr nachgeben zu wollen. Dennoch wankte sie hinüber zur Tür. Sie hatte ein Versprechen zu erfüllen.
Missgelaunt sah David Levi auf seine Taschenuhr. Der Zeitpunkt war gekommen, doch Jeremiah Weaver hatte sich noch immer nicht im Lagerhaus der Richmond-Handelsgesellschaft eingefunden. Die Freiwilligen, die das Palais Rogalski besetzen sollten, waren vollständig dort versammelt; einzig ihr Colonel fehlte.
Dass der Verleger ausgerechnet an einem solchen Tag verschlafen sollte, schien Levi unglaublich. Doch er traute diesem Zivilisten, dessen Leibesfülle ihm von Anfang an als untrügliches Zeichen für einen eklatanten Mangel an Disziplin erschienen war, jegliche pflichtvergessene Leichtfertigkeit zu.
Über ganz Friedrichsburg verteilt verließen genau in dieser Minute fünf Trupps von NeitherNors ihre Verstecke, um die ihnen zugewiesenen Gebäude unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch Levi musste seine Abteilung nun in Marsch setzen. Auf Weaver konnte er nicht warten. Abschätzig die Nase rümpfend verstaute er die Uhr in der Tasche seines Offiziersmantels und vergewisserte sich mit einem strengen letzten Blick noch einmal, dass die im Lagerhaus ungeduldig ihrem Einsatz entgegenfiebernden Freiwilligen einsatzbereit waren. Die zwanzig abtrünnigen Preußen, die er mit Bedacht für den entscheidenden Handstreich ausgewählt hatte, trugen Pickelhauben, blaue Füsilieruniformen und sogar Zündnadelgewehre; unter einigen Schwierigkeiten war es Levi gelungen, heimlich genügend Waffen aus dem Magazin zu entwenden. Alle übrigen Kämpfer waren in Zivil gekleidet und mit den österreichischen Lorenz-Vorderladern ausgerüstet.
Levi richtete das Wort an Francis Yeoman und musste dabei hinabsehen, weil der glatzköpfige Bankier gut einen Kopf kleiner war. »Da Mr. Weaver offenkundig anderweitig beschäftigt ist, treten Sie an seine Stelle«, ließ er ihn wissen. »Sie kennen den Plan. Folgen Sie mit Ihren Leuten im Abstand von einer Minute nach. Sobald ich mit meinem Trupp die Wachen am Palais des Kronprinzen überwältigt habe, überqueren Sie im Laufschritt den Prinzenplatz und besetzen das Gebäude. Verstanden?«
»Ja, vollkommen. Es wird alles geschehen, wie Sie sagen«, bestätigte Yeoman emsig. Vor Stolz schien er augenblicklich zwei Zoll an Größe zu gewinnen.
Das Leuchten in seinen Augen verriet unbändige Genugtuung darüber, dass nun ihm anstelle Weavers die ruhmverheißende Aufgabe zukam, den preußischen Thronfolger gefangen zu nehmen.
»Präzise eine Minute!«, mahnte Levi strikt. Dann setzte er sich seine blank
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