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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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polierte Pickelhaube auf und erteilte den zwanzig Uniformierten den Befehl zum Aufbruch. Die Flügel des Tors wurden aufgestoßen und in Zweierreihe marschierte der Trupp mit Levi an der Spitze aus dem Lagerhaus ins Freie.
     
    Unangemeldet betrat der hagere General das Dienstzimmer; er trug an diesem Tag zum ersten Mal seit seiner Abreise aus Europa anstelle der ungewohnten Zivilkleidung seine Uniform mit dem blauen zweireihigen Offiziersrock und den goldenen Epauletten. Oberst MacLachlan, der Kommandeur des 1. Karolinischen InfanterieRegiments, ließ erstaunt die Schreibfeder aus der Hand fallen. Sofort fuhr er vom Sessel auf, nahm hinter seinem Schreibtisch Haltung an und machte vorschriftsgemäß Meldung.
    »Helmuth von Moltke, Generalstab der Armee«, stellte sich der General vor. Sein Tonfall war besonnen, sein Auftreten bar jeder Aufregung. So ruhig, als spräche er nur über die Wacheinteilung des kommenden Tages, ließ er den Oberst wissen: »NeitherNors, welche mit Abtrünnigen in den Konföderierten Staaten im Bunde stehen, beabsichtigen in Kürze Seine Hoheit den Kronprinzen als Geisel zu nehmen und verschiedene Schlüsselpositionen in der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie wollen in Karolina einen Umsturz zugunsten der Südstaaten herbeiführen. Ich benötige Ihr Regiment, um die Erhebung sogleich niederzuschlagen.«
    Ungläubiger Schrecken war MacLachlans erste Reaktion auf Moltkes knappe Schilderung der Lage. Er versicherte stracks, zur Verfügung zu stehen, gab dann aber sorgenvoll zu bedenken: »Herr General, es – es ist zu befürchten, dass viele der Soldaten mit den NeitherNors sympathisieren könnten. Ich weiß nicht, ob sie kämpfen werden.«
    Ein fernes Lächeln zeigte sich auf Moltkes scharfkantigem Asketengesicht. »Sie werden. Wenn die Männer erst von mir erfahren haben, welches Los die Aufständischen den schwarzen und weißen Preußen Karolinas zudenken, dürfte es Ihnen eher Mühe bereiten, sie im Kampf zu zügeln«, prophezeite er. »Das Regiment soll antreten. Lassen Sie Generalmarsch schlagen.«
     
    Auf die Meldung seines Adjutanten, Rebekka Heinrich befinde sich in Begleitung einer weiteren jungen Dame im Vorzimmer und verlange vehement eine sofortige Audienz, entschied sich Kronprinz Friedrich nach kurzem Abwägen, sie zu empfangen. Zwar stellte ihr forderndes Auftreten einen eklatanten Bruch jeglicher Etikette dar; im Übrigen jedoch war er überzeugt, dass die Schuldirektorin nicht ohne höchst gravierende Gründe so energisch darauf drängen würde, unverzüglich vorgelassen zu werden.
    Im selben Moment, da die beiden Frauen in größter Eile in sein Arbeitszimmer traten, begriff er entsetzt, dass etwas ganz Fürchterliches passiert sein musste. Rebekka Heinrichs aschfahle Begleiterin Amalie von Rheine wirkte so aufgelöst, als wäre sie eines Leichnams ansichtig geworden, und auch die Direktorin selbst war von namenlosem Schrecken gezeichnet, aufgeregt und blass.
    Erschüttert kam der Kronprinz auf sie zu und wollte voller Sorge fragen, was ihnen widerfahren war. Doch Amalie fiel ihm hastig ins Wort. »Wir müssen Sie warnen, Hoheit!«, stieß sie hervor.
     
    Wenzel von Kolowrath, durch Perücke und Uniform in einen Inspektor des Gaswerks verwandelt, überquerte den Prinzenplatz und hielt geradewegs auf das Palais Rogalski zu. Streng genommen wäre die Verkleidung nicht zwingend nötig gewesen, und das wusste er. Doch das Spiel mit Masken und Identitäten bereitete ihm bei allen seinen Aufträgen stets besonderes Vergnügen. In diesem Fall ermöglichte ihm die Kostümierung, sein Ziel offen und direkt zu erreichen, ohne befürchten zu müssen, dass ihn unter Umständen die falsche Person im denkbar ungünstigsten Moment erkannte und zu argwöhnischen Folgerungen gelangte, die am Ende vielleicht noch das ganze kunstvolle Gebäude seines Plans in letzter Sekunde ins Wanken brachten.
    Kolowrath erreichte das Portal des Palais. Der schwarze und der weiße Wachposten waren ganz damit beschäftigt, sich gegenseitig mit grimmigem Misstrauen zu beäugen, und schenkten ihm kaum mehr als beiläufige Beachtung. Auf seine Behauptung, er müsse die Gasleitungen inspizieren, erteilte ihm der Weiße übellaunig die Erlaubnis zum Passieren.
    Ungehindert betrat Kolowrath die Residenz des Kronprinzen. Dabei warf er noch einen Blick zurück und sah auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes schon Levi aufziehen.
    Auf die Sekunde pünktlich. Das lobe ich mir,
dachte Kolowrath und

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