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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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von ihnen wie das Negativbild der anderen aussah, war den beiden Frauen erst bewusst geworden, als sie gemeinsam vor dem großen Spiegel im Empfangssaal des Regierungspräsidiums standen. Um ein Haar hätten sie bei diesem Anblick im gleichen Moment unüberhörbar gelacht.
    »Ich kann jedenfalls nicht behaupten, jetzt ein besseres Bild vom König zu haben. Allerdings, was seinen Sohn angeht …« Durch ein vertrauliches Zwinkern gab Amalie zu verstehen, dass der gut aussehende blonde Kronprinz erheblich mehr Eindruck auf sie gemacht hatte.
    »Prinz Friedrich ist in so mancher Hinsicht ein weit angenehmerer Vertreter des Hauses Hohenzollern«, bestätigte Rebekka. »Jetzt aber endlich zum vergnüglichen Teil des Abends!«
    Mit einem Lächeln brachte sie einen gerade vorbeikommenden jungen Soldaten zum Stehen, der in seinen weiß behandschuhten Fingern unsicher ein Silbertablett voller gefüllter Sektgläser balancierte. Sie nahm sich zwei davon und reichte eines Amalie, erkundigte sich aber vorsichtshalber: »Trinken Sie Alkohol?«
    »Das kann nur eine rhetorische Frage sein«, entgegnete die Lehrerin und nahm den Sekt erfreut entgegen. »Schließlich komme ich aus Westfalen.«
    »Exzellent. Lassen Sie uns auf das trinken, was wir lieben.«
    »Also auf uns«, schlug Amalie launig vor.
    Sie stießen an und genossen den prickelnden Schaumwein. Nachdem die Gläser geleert waren, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm, machten sich die zwei Frauen auf, um das Geschehen in den verschiedenen Sälen zu erkunden.
     
    Ihr Weg durch die Räume entpuppte sich als eine Kombination aus Hindernislauf und Geschicklichkeitsspiel. Die besonders ausladenden Reifröcke ihrer Ballkleider erschwerten jede Bewegung ungemein. Zudem mussten sie bei jedem Schritt achtgeben, inmitten der dicht beisammenstehenden Gäste nicht mit den ebenso voluminösen Krinolinen der anderen Damen zu kollidieren. Es gelang ihnen natürlich, sämtliche Schwierigkeiten graziös und scheinbar mühelos zu meistern. Insgeheim aber verfluchte Amalie die französische Kaiserin Eugénie dafür, mit ihrem Vorbild diese monströsen Auswüchse der Mode hervorzurufen. Aber sie verbarg ihren Unmut und lächelte tapfer. Nachdem sie eine Reihe kleinerer Säle durchquert hatten, gelangten die Lehrerinnen in den Großen Saal, wo gerade ein weiterer Walzer gespielt wurde. Vom Rand aus betrachteten sie die tanzenden Paare, die sich unter den argwöhnischen Augen des mächtigen Pappmaché-Adlers hoch oben an der Stirnwand schwungvoll zu den Klängen des Orchesters drehten.
    »Ein Hoch auf den preußischen Adler, der uns in nimmermüder Wachsamkeit treusorgend davor bewahren möge, das Falsche zu tun, zu sagen oder zu denken«, bemerkte die Direktorin bissig, aber wohlweislich nicht unnötig laut. »Auf dass ihm beizeiten die Krallen gestutzt werden.«
    »Bravo, Rebekka. Darauf sollten wir das Glas erheben. Ich sehe mich mal um, ob sich hier nicht etwas zu trinken finden lässt.«
    Amalie wandte sich um und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der ihr überrascht ins Gesicht blickte und den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Doch zunächst brachte er nur verlegenes Stottern heraus; erst im dritten Anlauf gelang es ihm, seinem Bedauern Ausdruck zu verleihen und um Verzeihung zu bitten.
    »Aber nicht doch, es war ganz und gar meine Schuld«, beruhigte Amalie den etwas hageren Unbekannten im nicht ganz passenden Frack, dem der Zwischenfall sichtlich peinlich war. »Sie brauchen sich deswegen keinerlei Vorwürfe zu machen, Herr …«
    »Leehay. Nein, Pardon. Healey natürlich«, stammelte er nervös. »Das ist … ich meine, ich habe hier meine Karte … eine Sekunde, bitte …«
    Hektisch suchte Healey die Taschen seines Fracks ab, bis er endlich eine Visitenkarte fand, die er überreichen konnte.
    Amalie nahm sie entgegen und stellte irritiert fest, dass auf der in Fraktur gedruckten Karte Oswald Jackson Miller als Generalbevollmächtigter der Richmond-Handelsgesellschaft genannt wurde, sein Name aber mit Bleistift durchgestrichen und
Alvin H. Healey
handschriftlich darübergesetzt war.
    Healey bemerkte Amalies Verwirrung und beeilte sich zu erklären: »Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, mir eigene Karten drucken zu lassen. Daher musste ich mit denen improvisieren, die mir mein Vorgänger hinterlassen hat. Bitte entschuldigen Sie, ich weiß, es ist ein wenig … nun ja …«
    »
Ungewöhnlich
dürfte der passende Begriff sein«, vervollständigte sie amüsiert seinen Satz.

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