Die Fahrt des Leviathan
aus einem einzigen Grunde – weil sie schwarz sind. So wie ich.«
»Mein Gott! Ich hatte von der Sklaverei natürlich gehört, aber mir war nicht klar … Millionen! Wie Vieh! Diese Vorstellung …«
»Was immer Sie sich jetzt vorstellen, kann nicht einmal annähernd so schrecklich sein wie die brutale Realität jenseits der Grenzen Karolinas«, sagte Rebekka mit mühevoll gebändigtem Zorn. »Ich muss ständig an diese himmelschreienden Zustände denken. Wie gerne würde ich dankbar sein, nicht dort, sondern in Preußen zu leben. Doch wenn in den Südstaaten Menschen physisch versklavt sind, so sollen sie hier nach dem Willen mancher in geistige Sklaverei gezwungen werden.«
Als die Direktorin diesen Satz aussprach, wurde Amalie schlagartig so blass, als hätte sie ein ein Gespenst gesehen.
Rebekka wunderte sich sehr, dass ihre Worte eine derart eindringliche Wirkung hatten, sprach aber unbeirrt weiter: »Und wehe uns, falls die Köpfe dieser Bestrebungen, die Kamarilla aus Junkern und Militärs, die Oberhand gewinnen sollten. Dann wird ganz Preußen eine einzige Plantage werden, auf der alle Untertanen entmündigte Geistessklaven sind, unter der Aufsicht König Wilhelms als oberstem Sklavenhalter!«
Amalie sah sie aus schreckgeweiteten Augen an und versuchte, etwas zu sagen, konnte aber nur stumm die Lippen bewegen.
Noch während Rebekka rätselte, was diese merkwürdige Reaktion zu bedeuten hatte, räusperte sich hinter ihr jemand.
Die Direktorin drehte sich um und sah sich zu ihrem Entsetzen dem Kronprinzen gegenüber, der seiner Miene nach zu urteilen jedes Wort gehört hatte. »Sie gestatten dem Sohn des obersten Sklavenhalters, an Ihrer Unterhaltung teilzuhaben, Mesdemoiselles?«, fragte er ernst.
»Es ist uns eine Ehre, Hoheit«, erwiderte Rebekka mit zugeschnürter Kehle.
Der Thronfolger dankte und trat neben die beiden Frauen. »Darf ich Ihre Äußerungen so verstehen, Fräulein Heinrich«, erkundigte er sich schnörkellos, »dass Sie die Monarchie ablehnen?«
Rebekka hatte sich noch nicht ganz wieder gefangen, antwortete aber dennoch geradeheraus: »Keineswegs, Eure Hoheit. Aber ich lehne ab, dass die Monarchie versucht, eine altertümliche Machtfülle für sich zu beanspruchen, die ihr nicht mehr zusteht.«
Ein Teil von ihr versuchte, sie vom Weiterreden abzuhalten. Die Vernunft sagte ihr, dass es Wahnsinn war, noch ein Wort mehr auszusprechen. Doch sie wollte jetzt nicht zurückweichen. Furchtlos sah sie dem Kronprinzen gegen alle Etikette direkt in die hellen Augen und ließ ihn wissen: »Darüber hinaus lehne ich es ab, dass der König nach Belieben die Regierung beruft, dass kein Minister dem Abgeordnetenhaus verantwortlich ist und dass die Armee, das ultimative Machtinstrument des Staates, zur Gänze der Kontrolle des Parlaments entzogen und allein dem König unterstellt ist. Diese und viele andere preußische Missstände lehne ich ab. Nicht jedoch die Monarchie, Eure Hoheit.«
Der Kronprinz wich dem Blick der Direktorin nicht aus und schwieg unheilverheißend. Amalie biss sich angespannt auf die Unterlippe und verknotete in Erwartung des Schlimmsten nervös die Finger. Rebekka ging es nicht anders, doch sie verkniff sich mit großer Willensstärke jedes Anzeichen von Unsicherheit. Beide Frauen waren darauf gefasst, jede Sekunde den allerhöchsten Unwillen Seiner Hoheit kennenzulernen.
Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen hellte sich das Antlitz des Prinzen auf und die bis dahin harte Steifheit seiner Lippen wich einem Lächeln. »Ihre Ansichten imponieren mir ebenso wie Ihre Unerschrockenheit«, lobte er die Direktorin. »Gerne würde ich mich ausführlicher mit Ihnen über diese Fragen unterhalten. Aber vorerst wäre ich bereits erfreut, wenn Sie mir den nächsten Tanz schenken würden, Fräulein Heinrich.«
Mit strenger Zurechtweisung oder der entrüsteten Androhung harter Konsequenzen hatte Rebekka gerechnet, nicht aber mit Anerkennung und einer Einladung zum Tanz. Ihre Verunsicherung war allerdings nicht so groß, dass sie sich nicht geschmeichelt gefühlt hätte. Sie entschuldigte sich bei Amalie und ließ sich dann vom Thronfolger auf das Parkett führen.
Wenn ich das meinen Freundinnen daheim schreibe, nehmen die mir keine Silbe ab,
dachte Amalie. Sie schaute ihrer Vorgesetzten dabei zu, wie sie in der Mitte des Saals in elegantem Schwung mit dem Kronprinzen tanzte und versuchte, Formulierungen zu finden, mit denen sie all das in ihren ersten Briefen glaubhaft
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