Die Fahrt des Leviathan
Irgendwie.
Die Tür des Raumes wurde zögerlich geöffnet und die Ordonnanz trat ein. Der Sergeant hatte die reizbare Verfassung seines Vorgesetzten an diesem Morgen schon mehrmals drastisch kennenlernen müssen. Jetzt aber schien ihn der Offizier nicht einmal wahrzunehmen.
»Bitte Herrn Major, die Störung zu vergeben«, meldete er mit gedämpfter Stimme. »Ein Dienstmann hat dieses Schreiben für den Herrn Major abgeliefert.«
»Von wem?«, fragte Pfeyfer abwesend, ohne den Blick von der leeren Wand zu lösen.
»Von einem Doktor Täubrich, Herr Major.«
»Täubrich?« Pfeyfer drehte den Kopf herum. Er wollte den Sergeanten auffordern, den Brief zu dem Stapel anderer Papiere auf dem Tisch zu legen, um ihn dann wie die restlichen Unterlagen zu ignorieren. Aber eine schwache Ahnung hielt ihn davon ab. Er ließ sich das Schreiben geben, öffnete antriebslos den Umschlag und entfaltete das Blatt.
Unversehens sprang Pfeyfer von seinem Stuhl auf. So abrupt, dass der Sergeant voller Schrecken zurückwich.
»Sofort mein Pferd satteln!«, rief er aus, lief aus dem Raum und riss im Vorbeieilen Mütze und Mantel vom Kleiderständer.
* * *
Das Anatomische Theater der Universität trug seinen Namen zu Recht. Die steil ansteigenden Sitzreihen bildeten einen Dreiviertelkreis, den Rängen eines antiken griechischen Theaters gleich. An diesem Ort wurden jedoch weder Dramen noch Komödien aufgeführt. Vielmehr fanden hier Vorlesungen statt, bei denen die Medizinstudenten aus erster Hand das Innere des menschlichen Körpers kennenlernten. Auf dem Tisch, der das Zentrum darstellte, öffneten die Professoren die Leichen im Zuchthaus verstorbener Strafgefangener und erläuterten dabei ausführlich Lage und Zustand der Organe.
Heute aber waren die Sitze leer. Nur Doktor Täubrich befand sich im Saal. In Hemdsärmeln und mit einer langen Schürze bekleidet stand er neben dem Tisch, auf dem ein weißes Laken einen Körper bedeckte. Gerade reinigte er sorgsam seine Skalpelle, als die Tür aufgestoßen wurde und Wilhelm Pfeyfer in den Saal stürmte.
»Guten Tag, Herr Major«, begrüßte ihn der Arzt. »Entschuldigen Sie bitte die etwas unpassende Umgebung. Das Leichenschauhaus ist momentan leider belegt. Ich danke Ihnen, dass Sie so kurzfristig herkommen konnten.«
»Ich habe für die Mitteilung zu danken«, entgegnete Pfeyfer. »Sie schrieben, dass Sie etwas äußerst Wichtiges herausgefunden haben. Worum handelt es sich?«
Täubrich legte das Skalpell zurück an seinen Platz in der mit rotem Samt ausgeschlagenen Instrumentenschatulle. »Nun, ich habe die Leichenschau durchgeführt und dabei bin ich auf etwas gestoßen, das ein völlig neues Licht auf die Vorgänge der letzten Nacht wirft.«
Er zog das Laken zurück und legte Heinzes nackten, kreideweißen Leib frei.
Unwillkürlich zuckte Pfeyfer zurück, als er seinen toten Freund auf dem Seziertisch erblickte.
»Treten Sie bitte näher«, fordere ihn der Doktor auf und wies auf einen langen, sauberen Schnitt, der über den Brustkorb verlief und dabei die Einschusswunde durchteilte. »Wie Sie sehen, habe ich die tödliche Verletzung genauer untersucht. Ich werde nun den Einschnitt öffnen, damit Sie selber feststellen können –«
»Ihre Schilderung reicht mir völlig«, hielt ihn der Major eilig zurück. Nichts wünschte sich Pfeyfer in diesem Moment weniger, als auch noch in den Leichnam blicken zu müssen.
Täubrich, der bereits eine Zange in der Hand hielt, um die Ränder des Schnitts auseinanderzuziehen, legte das Instrument wieder beiseite. »Wie Sie wünschen, Herr Major«, meinte er mit einem Anflug von Enttäuschung. »Also, ich öffnete die Leiche und folgte dem Weg, den die Kugel genommen hat. Sie drang hier ein, in der Herzgegend, durchschlug einen Lungenflügel und blieb im Zwerchfell stecken, wo ich sie auffand.«
Mit dem Finger deutete er am Körper den Weg an, den das todbringende Geschoss genommen hatte. Pfeyfer sah genau zu, wusste aber zunächst nicht, worauf der Arzt hinauswollte. Dann plötzlich erkannte er, worin die Entdeckung bestand.
»Der Einschuss verläuft schräg!«, rief er überrascht aus.
Täubrich nickte und verhüllte den Toten wieder. »So ist es, Herr Major. Schräg abwärts.«
»Aber wie ist das möglich? Weaver stand direkt vor ihm. Er wird doch den Revolver nicht beim Schießen hoch über seinen Kopf gehalten – warten Sie! Das heißt, Weaver hat den tödlichen Schuss gar nicht abgegeben!«
»Das war auch meine
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