Die Fahrt des Leviathan
Schlussfolgerung, Herr Major«, bestätigte ihm der Arzt. »Der Schütze muss von einer stark erhöhten Position aus gefeuert haben. Anders ist diese Verletzung nicht zu erklären. Sie verstehen nun gewiss, warum ich Ihnen diese Entdeckung unverzüglich mitteilen musste.«
Schlagartig wurde sich Pfeyfer der Konsequenzen bewusst, die aus dieser neuen Lage der Dinge resultierten. Weaver schied als Todesschütze aus. Zwar hatte er zweifellos einen Schuss auf Heinze abgegeben; der Major hatte seinen Revolver überprüft und festgestellt, dass eine der Patronenhülsen in der Trommel leer war. Doch diese Kugel hatte ihr Ziel offenbar verfehlt. Der wirkliche Mörder musste ein unbekannter Dritter sein.
Mit einem Mal ergab sich ein ganz neues Bild der Ereignisse. Weaver hatte Heinze nicht alleine aufgelauert, sondern gemeinsam mit einem seiner Mitverschwörer, der sich im Lagerhaus verborgen hielt. Da die Tür beim Eintreffen der Schutzmänner von innen verriegelt war, musste der Unbekannte sich nach dem Schusswechsel wieder in sein Versteck begeben haben, im festen Vertrauen darauf, dass man das Lagerhaus nicht durchsuchen würde. Schließlich gab nichts Anlass zur Vermutung, dass außer den beiden Toten, die sich augenscheinlich gegenseitig erschossen hatten, noch jemand dort gewesen sein könnte.
»Verflucht, das heißt auch – er war noch dort!«, entfuhr es Pfeyfer.
Doktor Täubrich stutzte. »Wer war noch dort?«
»Der Mörder! Er ist nicht aus dem Lagerhaus entwichen. Der Schutzmann, der bei den Toten Wache hielt, hätte das bemerkt. Also hockte dieser Verbrecher noch immer in seinem Versteck, als wir eintrafen! Er war dort, fast zum Greifen nahe!«
In ohnmächtigem Zorn schlug Pfeyfer mit der flachen Hand so heftig auf den Tisch mit den Instrumenten, dass die Skalpelle und Zangen klirrend durcheinandergeschleudert wurden. »Ich hätte Heinzes Mörder ergreifen können, ich hätte zum allerersten Mal einen der Aufrührer zu fassen bekommen! Aber nein, nein, nein, ich war zu blind! Stattdessen brauchte er nur zu warten, bis die Leichen abgeholt waren, bis alles wieder ruhig wurde. Dann ist er einfach aus dem Lagerhaus spaziert und verschwunden!«
»Bei Gott, Herr Major, Sie haben recht. Das hatte ich überhaupt noch nicht bedacht.«
»Oh, ich bin ein Hornochse … Doch immerhin, durch die Gegenwart dieses Unbekannten ist eindeutig klar, dass es sich um eine sorgfältig vorbereitete Todesfalle gehandelt hat. Und wenn bisher noch Zweifel bestanden, ob Nathaniel Weaver zu den Verschwörern gegen Preußen zählte, dann stellt dieser eiskalte, ruchlose Hinterhalt den Beweis dar. Unsere Feinde haben einen groben Fehler begangen. Ihre eigene Untat weist mir den Weg zu diesen Leuten, die sich so gut zu verbergen wissen!«
Täubrich hob die Brauen. »Sie haben den Anfang des Weges vor sich. Aber wissen Sie auch, in welche Richtung Sie den nächsten Schritt tun müssen?«
»Es gibt noch einen Weaver«, sagte Pfeyfer grimmig. »Ich habe mich immer gescheut, die Brüder zu behelligen. Aber nun ist Schluss mit der Rücksichtnahme.«
Er betrachtete den verhüllten Leichnam Heinzes und ballte die Fäuste.
* * *
Mit der linken Hand stützte Healey seinen Kopf, denn er befürchtete, von einer Sekunde auf die nächste unversehens einzunicken und dann mit der Stirn auf den Schreibtisch zu schlagen. In der Rechten hielt er einen großen Emaillebecher mit Kaffee. Das unmäßig starke Gebräu sollte ihn wachhalten und beleben, denn seine ohnehin kurze Nachtruhe nach dem Ball hatte früh am Morgen ein abruptes Ende gefunden, als er durch energisches Klopfen aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein Gendarm hatte vor der Tür gestanden und ihm mitgeteilt, dass sein umgehendes Erscheinen im Polizeipräsidium unerlässlich sei. Also hatte sich Healey folgsam, wenn auch todmüde, mit dem Polizisten zu dem Gebäude nahe dem Prinzenplatz begeben, wo er sich dann der stundenlangen Befragung durch einen pedantischen Polizeirat ausgesetzt sah.
Healey trank einen Schluck und biss lustlos von einer Scheibe Brot mit fader Marmelade ab.
Warum mussten sich diese beiden ausgerechnet in meinem Lagerhaus erschießen?,
fragte er sich missmutig. Dieser Vorfall hatte ihm erhebliche Scherereien eingetragen. Der Polizeirat war zunächst nicht willens gewesen, ihm zu glauben, dass ihm keiner der zwei Männer ein Begriff war. Zumindest Nathaniel Weaver, so die Überzeugung des Beamten, hätte er kennen müssen, da der Verleger doch einen Teil
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