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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Und man ihnen auch den kümmerlichen Rest ihres rechtmäßigen Eigentums gestohlen hätte, wenn sie Karolina den Rücken zu kehren versucht hätten? Armut ist ein schlechter Reisegefährte, Major.«
    Der Verleger verschränkte die Arme vor der Brust und sprach weiter: »Außerdem – nur indem wir blieben, konnten wir zeigen, dass wir das uns zugefügte Unrecht nie akzeptieren würden. Nie!«
    Die rückwärtsgewandte Uneinsichtigkeit, die Weaver an den Tag legte, wäre Pfeyfer lächerlich erschienen, hätte er nicht gewusst, dass unter den Nachfahren der amerikanischen Kolonisten mancher so dachte. Und das vor allem, weil Männer wie dieser Verleger durch unentwegtes Stochern dafür sorgten, dass die Glut der Verbitterung nie ganz erkaltete. Ein unerwarteter Luftzug im falschen Moment konnte die Flammen jederzeit aufs Neue entfachen.
    »Ich darf Sie nun bitten zu gehen«, forderte Weaver den Major auf. »Ich erwarte Angehörige, die jeden Augenblick eintreffen können.«
    Und die natürlich keinen Nigger in diesen heiligen Hallen vorfinden sollen,
führte Pfeyfer den Satz in Gedanken fort. Er stand auf, verabschiedete sich mit einem einzigen nüchternen Satz ohne jede Höflichkeitsfloskel und verließ dann das Büro. Keine Minute länger hätte er sich freiwillig in diesem Raum aufgehalten.

Am Potomac
    Der Boden war aufgeweicht vom Regen der vergangenen Nacht, doch vom klaren Himmel schien hell die tiefstehende Oktobersonne. Nur hatte niemand Augen für das Spiel der Sonnenstrahlen zwischen bunt gefärbten Blättern oder auf den Wirbeln des sich träge und lehmbraun dahinwälzenden Flusses. Die zahllosen Menschen hatten zu viel zu tun, um auch nur eine Sekunde in Betrachtung der melancholischen herbstlichen Pracht zu verweilen. Die Potomac-Armee der Vereinigten Staaten setzte nach Wochen des Wartens über den Strom, dessen Namen sie trug.
    Auf fünf langen Pontonbrücken überquerten endlose Kolonnen blau gekleideter Soldaten den Fluss, der nicht nur die Grenze zwischen Maryland und Virginia bildete, sondern auch das Territorium der Union vom Rebellengebiet der Südstaaten trennte. Immer neue Batterien vierfach bespannter Feldgeschütze rumpelten über die Brücken, und mit ihnen Hunderte der von Maultieren gezogenen Planwagen des Trains, in denen von Munition bis zu Mehl und Werkzeug alles südwärts geschafft wurde, was über hunderttausend Mann im Feindesland benötigten. Am südlichen Ufer wurden die Soldaten von den Klängen mehrerer Militärkapellen willkommen geheißen, deren Märsche, Volkslieder und Walzer zumindest in unmittelbarer Umgebung den Lärm Tausender Fuhrwerke, Pferde und ohne Tritt über Holzbohlen trampelnder Stiefel zu übertönen vermochten.
    Vom Rücken seines Pferdes aus beobachtete General George McClellan auf der virginischen Seite des Potomac das Geschehen und erfreute sich an der Präzision, mit der die Streitmacht das komplexe Manöver der Flussüberquerung meisterte. Er war gehobener Stimmung. Dies war eine Armee, wie sie die Welt seiner untrüglichen Überzeugung nach seit den Tagen der unbezwingbaren römischen Legionen nicht gesehen hatte. Und er wusste, dass sie von einem Feldherrn angeführt wurde, der keinen Vergleich mit Napoleon, Friedrich dem Großen oder Julius Cäsar zu scheuen brauchte. Von ihm selbst nämlich.
    Zufrieden mit dem Schauspiel, das sich ihm darbot, strich er sich über den schwarzen Schnurrbart. Hier stand er nun auf dem Boden des Feindes und schickte sich an, Geschichte zu machen.
    Was wussten schon diese Ignoranten in Washington? Statt seinen brillanten Sieg am Antietam fünf Wochen zuvor angemessen zu würdigen, statt ihm Anerkennung dafür zu zollen, dass er den Vormarsch der Rebellen durch Maryland gestoppt, die feindliche Armee nach Virginia zurückgetrieben und die Hauptstadt gerettet hatte, waren diese ewig unzufriedenen Politiker ihm nur mit neuen Forderungen gekommen. Und aus den Forderungen waren schnell Vorwürfe geworden, weil er Lees Nordvirginia-Armee nicht nachsetzte, sie nach ihrer Niederlage nicht stellte und endgültig vernichtete.
    Wie ihn diese ständigen Vorhaltungen und Belehrungen ärgerten! Ihm bewiesen die Telegramme, in denen er ohne Unterlass zur Verfolgung der Rebellen aufgefordert worden war, was er schon immer gemutmaßt hatte – dass Politiker militärische Analphabeten waren. Und der erbärmlichste von ihnen war diese beschränkte, gorillaähnliche Kreatur, die mit ihrer beschämenden Unzulänglichkeit die Würde des

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