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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Präsidentenamtes beschmutzte. Bildete sich dieser Mensch denn wirklich ein, auch nur den geringsten Schimmer von der Kriegskunst zu haben?
    McClellan tätschelte sein Pferd, das unberührt von all dem lärmenden Treiben blieb. Nein, er konnte diesen Präsidenten nicht ernst nehmen. Der preußische König, dem er einen Tag lang die Befestigungsanlagen von Washington gezeigt hatte, war da schon eher nach seinem Geschmack. Kein militärisches Genie, aber jeder Zoll ein Soldat mit Sinn für die Belange des Krieges. Zwar war der General fest überzeugt, dass die Monarchie eine archaische und dem Aussterben geweihte Staatsform darstellte, aber immerhin hätte ihm dieser König ganz sicher nicht die verlangten Verstärkungen verweigert. Lincoln hingegen hatte ihn immer nur aufgefordert, endlich gegen die Rebellen vorzugehen, ohne ihm die Mittel dafür zu geben. Wieder und wieder hatte McClellan betont, dass Lee mindestens neunzigtausend Mann zur Verfügung standen, vermutlich aber deutlich mehr, und dass er daher weitere Regimenter benötigte, um mit klar überlegenen Kräften vorgehen zu können. Doch der Kretin im Weißen Haus und seine ebenso denkschwachen Berater hatten alle seine Berichte über die Stärke der Nordvirginia-Armee als Hirngespinste abgetan. Bedurfte es noch weiterer Beweise für die Unfähigkeit der Regierung?
    Wenn McClellan nun doch nach Süden vorstieß, dann nur, weil der Präsident ihm nach sermonartig wiederholten ermüdenden Aufforderungen nun den ausdrücklichen Befehl dazu erteilt hatte. Aber der General war zuversichtlich; er mochte Lee vielleicht nur in gleicher Stärke entgegentreten, aber seinen strategischen und taktischen Fähigkeiten konnte der Rebellengeneral nichts entgegensetzen. Zudem hatte McClellan auch gar nicht die Absicht, die Konföderierten vernichtend zu schlagen, obwohl ihm dies dank seines Talents ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Wozu die Südstaatler, die ja wieder in die Union zurückgeführt und zu Landsleuten gemacht werden sollten, durch auftrumpfende Siege unnötig verbittern? Sein Kalkül sah anders aus. Er wollte den Krieg mit geringen Opfern in die Länge ziehen und den Konföderierten durch immer neue kleine Niederlagen ihre Unterlegenheit und die Aussichtslosigkeit ihrer Lage vor Augen führen, während im Norden ganz gewiss die Kriegsmüdigkeit und die Unzufriedenheit mit Lincoln und seinen unfähigen, kriegstreiberischen Republikanern wuchs. Dann würden die Demokraten ihn, den Napoleon Amerikas, bei den Präsidentschaftswahlen 1864 als ihren Kandidaten aufstellen. Und wenn er erst einmal in das Weiße Haus eingezogen war, wollte McClellan die Hand nach den entkräfteten Südstaatlern ausstrecken. Großzügig, versöhnend, ohne irgendeiner Seite Rechte zu nehmen oder Zugeständnisse einzufordern, die über die Wiederherstellung der Union, wie sie zuvor gewesen war, hinausgingen. Seinen größten Triumph wollte McClellan nicht auf dem Schlachtfeld erringen. Und um dieses Ziel zu erreichen, brauchte er nur sein Feldherrngenie auf die rechte Weise und mit Mäßigung einzusetzen.
    Meine Bestimmung ist es, dieser beschämenden Episode amerikanischer Geschichte ein Ende zu setzen und die Vereinigten Staaten zu neuem Glanz zu führen,
dachte er.
Und kein Mann sollte sich seiner Bestimmung widersetzen.
    Er gab dem Pferd leicht die Sporen und ritt zwischen den Marschkolonnen seiner Soldaten hindurch, die Hand grüßend an den Schirm seines Képis gelegt.
    Lauter Jubel brandete um ihn herum auf.

Friedrichsburg
    Pfeyfer band die Zügel seines Pferdes am Laternenpfahl gegenüber dem Lagerhaus fest. Er erkannte, dass er genau zur rechten Zeit eingetroffen war. Ein Handwerker montierte gerade ein neues Schloss an der aufgebrochenen Tür, und daneben stand ein dünner, unscheinbarer Mann, gekleidet in einen nicht mehr ganz neuen Anzug nach südstaatlichem Geschmack, in dem Pfeyfer Alvin Healey vermutete. Bislang kannte er den Geschäftsführer der Richmond-Handelsgesellschaft nur dem Namen nach. Die Gelegenheit war günstig, sich ein Bild vom Charakter dieses Mannes zu machen.
     
    Der Major trat an ihn heran, legte grüßend die Hand an die Mütze und erkundigte sich auf Englisch, ob er die Ehre mit Mr. Healey habe.
    Sein Gegenüber blickte ihn mit einem entnervten Augenrollen an. »Bitte sagen Sie mir nicht, dass ich zu einem weiteren Verhör vorgeladen bin, Herr Wachtmeister«, entgegnete er zu Pfeyfers Überraschung in makellosem Deutsch ohne die geringste

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