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Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
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verstehen.«
    »Ihr haltet mich also für dumm?«
    »Frauen besitzen nicht die geistige Reife der Männer. Schon Aristoteles weist darauf hin, daß die Schöpfung auf den Mann ausgerichtet wurde. Wenngleich ich zugeben muß, daß du für ein Dienstmädchen recht aufgeweckt zu sein scheinst.«
    Anneke gab ein abfälliges Zischen von sich. »Ich weiß zwar nicht, wer dieser Aristoles, oder wie auch immer dieser Kerl heißen mag, ist, aber wenn ich an die vielen tumben Burschen hier im Dorf denke, die ihre Finger zu Hilfe nehmen müssen, wenn sie zwei und vier zusammenzählen sollen und nicht einmal in der Lage sind, ihren Namen zu schreiben, fühle ich mich wahrlich nicht als fehlgeleitete Schöpfung.«
    Ohlin seufzte. »Du langweilst mich. Es ist müßig, weiter über dieses Thema zu disputieren.«
    »Euch ist es müßig – mir nicht.« Anneke war keineswegs gewillt, sich den Mund verbieten zu lassen. »Was ist mit Eurem Eheweib?« wollte sie wissen. »Haltet Ihr sie ebenfalls für dumm? Das ist anzunehmen, denn sonst würdet Ihr nicht auf so dreiste Art und Weise das Sakrament der Ehe verletzen.«
    |93| »Wie ich mit meiner Frau umgehe, braucht dich nicht zu kümmern«, erwiderte er gereizt.
    Sie verfielen wieder in ein Schweigen, das erst endete, als Anneke ihn von der Straße in das Unterholz des Waldes führte.
    »Wir sind nur noch etwa fünfzig Schritte von der Leiche entfernt.« Anneke trat beherzt voran.
    »Wann sagtest du, ist dieser Mord geschehen?«
    »Vor neun Tagen.«
    Ohlin rümpfte die Nase. »Es hat oft geregnet in den vergangenen Tagen. Der Kerl wird kein schöner Anblick mehr sein. Wahrscheinlich fault ihm bereits das Fleisch von den Knochen, und das Ungeziefer und die Füchse haben sich über ihn hergemacht.«
    Kurz darauf gab Anneke das Zeichen, stehen zu bleiben. Sie deutete auf die Senke, die in Sichtweite vor ihnen lag. Ein halbes Dutzend Krähen flatterte dort herum und pickte auf den Körper ein. Anneke klatschte mehrmals laut in die Hände. Zunächst reagierten die Vögel darauf nur mit einem protestierenden Kreischen. Erst als sie einen Stein in ihre Richtung warf, flatterten sie davon.
    Anneke konnte in der Senke den blauen Mantelstoff erkennen und auch die Stiefel des Toten, die aus dem Laub ragten. Ohlin saß ab und stellte sich neben sie.
    »Warum seid Ihr so versessen darauf, diesen Toten zu sehen?« fragte sie. »In Osnabrück hat Euch dieser Kadaver keinen Deut interessiert.« Ein flaues Gefühl breitete sich in Annekes Magen aus, als ihr ein süßlich-fauler Geruch in die Nase stieg.
    »Die Dinge ändern sich«, meinte Ohlin nur, zog ein spitzenbesetztes Tuch hervor und trat auf die Senke zu.
    Als der Schwede den Toten erreicht hatte und sich zu ihm hinabbeugte, zuckte er zurück und hustete. Rasch preßte er das Tuch auf die Nase. Der Gestank mußte unerträglich sein.
    |94| »Grundgütiger!« hörte sie ihn klagen, dann kniete er sich auch schon hin und schob das Laub zur Seite.
    Anneke wollte sich abwenden, doch wie gebannt richtete sie ihren Blick auf Ohlin und verfolgte mit, wie dieser sich über den Toten beugte und dessen Mantel aufknöpfte. Er schob die Finger seiner rechten Hand unter das Wams der Leiche und drückte mit der anderen weiterhin das Tuch vor die Nase. Der faulige Geruch machte nun auch ihr das Atmen schwer, und es verwunderte sie, daß Ohlin, den sie doch für einen aufgeblasenen Gecken hielt, so unerschrocken diesen verwesenden Kadaver abtastete. So wie sie Ohlin bislang kennengelernt hatte, war sie davon überzeugt gewesen, daß er sogar von einem Misthaufen mindestens zwanzig Schritte Abstand halten würde.
    »Hilf mir!« rief Ohlin ihr zu.
    Anneke rührte sich nicht.
    »Nun hilf mir schon, dann können wir um so schneller von hier verschwinden.«
    Sein Drängen und die Aussicht, diesen Ort so rasch wie möglich zu verlassen, brachte Anneke schließlich dazu, näherzutreten. In diesem Moment erfaßte Ohlin die Schulter des Toten und richtete ihn in eine sitzende Position auf. Anneke schlug erschrocken die Hände vor die Augen, lugte aber durch die Fingerspalten auf das Gesicht der Leiche. Am Tag seines Todes waren ihr die hübschen Züge dieses Burschen aufgefallen, doch nun hatte sich sein Antlitz in eine häßliche, verwesende Fratze verwandelt. Die Krähen hatten ihm die Augen aus dem Kopf gerissen, sein aufgedunsenes Fleisch warf gelbliche Blasen, und eine schwarze Zunge glitt aus seinem Mund, als der Kopf zur Seite rutschte.
    »Halt ihn fest, damit ich

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