Die Falken Gottes
plötzlich mit dem Gedanken, das Buch vor ihrer Dienstherrin zu verstecken und es für sich zu behalten. Es war immer schon Annekes Wunsch gewesen, ein eigenes Buch zu besitzen, auch wenn ihr bei der anstrengenden Arbeit in der Monsbach-Schenke kaum Zeit bleiben würde, ihre Nase zwischen die Seiten zu stecken.
Sie schob das Buch in ihre Schurztasche. Zufrieden damit, daß sie bekommen hatte, was sie wollte, lief sie zurück in die Altstadt. Da das Geschäft mit Anselm Hartiger zügig erledigt worden war, hatte sie nun noch ein wenig Zeit, und sie überlegte sogar, ob sie einen Abstecher in die Dielinger Straße machen sollte, wo sie einst mit ihren Eltern gewohnt hatte, um nach all den Jahren das Haus wiederzusehen, mit dem sie so viele Kindheitserinnerungen verbanden. Dann aber sagte sie sich, daß es besser wäre, sich nicht allzusehr diesen melancholischen Sentimentalitäten hinzugeben, und schlenderte gemächlichen Schrittes durch die Straßen und Gassen, betrachtete die Waren, die die Handwerker und Krämer vor ihren Häusern ausstellten, und steckte ihre Finger immer wieder in die Schurztasche, um sich zu vergewissern, daß das Buch auch wirklich noch da war.
Pünktlich zur vierten Stunde fand sie sich am Stadttor ein, das auf die Straße nach Lengerich führte. Magnus Ohlin ließ sich jedoch nicht blicken. Anneke lief ungeduldig auf und ab, reckte den Hals und schaute ständig zur Kirchturmuhr, die sie von hier so eben noch erkennen konnte. Als es zur halben Stunde schlug, glaubte sie nicht mehr daran, daß Ohlin sein Wort halten würde.
Was sollte sie nun tun? Zu Fuß zurück zur Monsbach-Schenke laufen? Dann würde sie jedoch erst in der Nacht |101| heimkehren, und die Monsbacherin hätte einen neuen Grund gefunden, sie mit weiteren Stockhieben zu strafen.
Nein, so leicht wollte sie es Magnus Ohlin nicht machen. Er hatte ihr versprochen, sie heimzubringen, und vielleicht mußte er nur daran erinnert werden. Anneke wartete noch einige Minuten ab, dann trat sie kurzentschlossen in die Lohstraße und klopfte an die Tür von Ohlins Haus.
Sie rechnete damit, daß die schnippische Magd Ebba versuchen würde, sie abzuweisen. Heute jedoch öffnete ihr eine andere Frau. Sie war einige Jahre älter als Ebba und wirkte ein wenig ausgezehrt und kränklich.
»Was kann ich für dich tun?« fragte die Frau und musterte Anneke mit müden Augen.
Bevor Anneke antworten konnte, mischte sich Ebba ein, die plötzlich hinter der anderen Frau auftauchte.
»Schickt sie fort!« meinte Ebba. »Das ist nur ein Bettelmädchen, das vor einigen Tagen schon einmal hier herumlungerte.«
»Ich bin kein Bettelmädchen«, verteidigte sich Anneke.
»Was führt dich dann an unsere Tür?« wollte die kränkliche Frau wissen.
Erst da wurde Anneke bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wie sie erklären sollte, warum sie Magnus Ohlin aufsuchte. Über den Mord im Wald durfte sie nicht sprechen und auch nicht über die fünf Schillinge, die Ohlin dafür bezahlt hatte, daß sie ihn zu der Leiche geführt hatte. Darum antwortete sie nur: »Ich muß mit Magnus Ohlin reden.«
»Mein Mann hat sich in seine Schreibstube zurückgezogen und möchte nicht gestört werden.«
Dies war also tatsächlich Ohlins Ehefrau. »Bitte laßt mich nur kurz mit ihm sprechen«, sagte Anneke.
»Scher dich fort!« rief Ebba, doch Ohlins Frau brachte die Magd mit einem ärgerlichen Blick zum Schweigen.
Im ersten Stock hörte Anneke das Knarren einer Tür, und |102| kurz darauf trat Magnus Ohlin auf die Treppe. Er trug Mantel und Hut und eilte auf die Tenne. Als er Anneke mit seiner Frau und Ebba an der Tür sah, stutzte er.
»Du?« fragte er überrascht. »Verdammt, ich habe die Zeit vergessen.«
Frau Ohlin nahm diese seltsame Situation völlig ungerührt hin und verzog keine Miene. Anneke hatte zwar nie einen Gedanken daran verschwendet, was für ein Mensch Ohlins Ehefrau sein mochte, aber diese träge Person überraschte sie dennoch. Wie sie dort neben Magnus Ohlin stand, den Blick gesenkt hielt und die Schultern hochzog, als wolle sie es tunlichst vermeiden, ihm zu nahe zu kommen, konnte Anneke kaum glauben, daß dies zwei Eheleute sein sollten.
Nach einem Moment des verlegenen Schweigens faßte Frau Ohlin Ebba am Arm und zog sie mit sich zurück. Nun, wo sie allein unter dem Türbalken standen, machte Ohlin ein mürrisches Gesicht und raunte Anneke zu: »Was willst du hier?«
Es scherte Anneke nicht, ob Ohlin vor seiner Frau in Erklärungsnot geriet.
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