Die Fallen von Ibex
sprach, und eine völlig andere, sie gegeneinander kämpfen und sich umbringen zu sehen. Es machte sie sehr nervös, solche Leute in der Nähe zu wissen. Sie faltete die Karte wieder zusammen.
Shadith räusperte sich; in ihrer Stimme vibrierte ein ärgerliches, entschiedenes Kratzen. „Darf ich auch mal sehen?”
„Tut mir leid.” Aleytys lenkte den Gyr näher zu ihr hinüber und reichte ihr die Karte. „Ich hab’ einfach nicht daran gedacht.” Sie wartete, bis die Karte auseinandergefaltet vor dem Mädchen lag.
„Ich habe mir überlegt, daß es das beste ist, wenn wir uns weiterhin an die Straße halten … Naja, vielleicht nicht sklavisch genau, weil das wahrscheinlich viel zu gefährlich ist. Aber wir sollten den Fluß da vorn überqueren… die Brücke. So können wir die Centaizel umrunden.” Sie warf Shadiths aufmerksamem Gesicht einen Blick zu. „Siehst du, was Esgard geschrieben hat?”
„Umm. Richtig. Wüßte gern, wie er sich das ausgedacht hat, an ihnen vorbeizukommen.”
„Möglich, daß er es nicht geschafft hat. Möglich, daß er längst tot ist.”
„Wenn sie ihn erwischt haben, bestimmt - nach all dem, wie sie sich da hinten aufgeführt haben.” Sie nickte in Richtung Süden, faltete die Karte sorgfältig wieder zu und warf sie Aleytys zu. „Hat keinen Sinn zu spekulieren.”
„Nicht viel.” Aleytys steckte die Karte wieder in ihren Gürtel zurück. „Es wäre ein bißchen hilfreicher gewesen, wenn er seine Route auf der Karte vermerkt hätte … Es muß einen Weg geben, auf dem man an ihnen vorbeischlüpfen kann. Damals muß Schnee gelegen haben. Macht es das leichter oder schwerer? Sein Führer wußte es. Ortskenntnis - die wir nicht haben.”
„Richtig.” Shadith legte den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel ab, bis sie den Falken gefunden hatte. Sie beobachtete ihn, wie er durch den Wolkendunst segelte. „Eine Karte ist ziemlich gut, aber die Angaben darauf könnten veraltet sein. Mir wäre wohler zumute, wenn ich selbst einen Blick auf das werfen könnte, was jetzt da vorne ist.” Ihr Gesicht war entschlossen und zugleich trotzig, als sie Aleytys jetzt einen hastigen Blick zuwarf.
„Nicht du”, sagte Aleytys mit fester Stimme. „Du paßt hier auf.”
Sie entspannte sich, machte es sich auf dem Sattelpolster bequem, schloß die Augen und griff nach dem Falken. Sie wechselte in seinen Schädel über und hieß ihn dann nach Norden fliegen - hoch über der alten Straße. Sie wollte das Etwas sehen, das eine Mauer sein konnte, und sie wollte einen guten Ausblick haben auf die mögliche alternative Route über die Berge. Eine Zeitlang spulten sich Steppenland und Vorberge unverändert unter ihr ab, doch dann sah sie eine große Herde Wiederkäuer, die sich gleich einem vielköpfigen Wurm über die Hügel voranfraß. Sie ließ den Falken tiefer gehen. Mehrere ziemlich kleine Eingeborene - Knaben oder vorpubertäre Mädchen - ritten müßig um die Herde herum. Noch während Aleytys beobachtete, trieb eine kleine Gestalt ihren Gyr zu einem wilden Trab an und jagte einem davonwatschelnden Jungtier hinterher. Sie ließ den Falken weitersegeln. Tief unten holte der Reiter das Kalb ein und trieb es zur Herde zurück.
Ein wenig weiter nördlich entdeckte sie einige vereinzelte Steinbauten, dann die Mauer selbst. Sie schickte den Falken empor, ließ ihn durch dünne Wolkenschleier aufsteigen. Ein gewaltiger Wall vor der Mündung eines breiten, weitgestreckten Tales eine massive Steinmauer mit zerbröckelnden Klippen aus verwittertem Fels zu beiden Seiten. Es mußte hier oft zu Steinschlägen kommen, besonders im Frühling, nachdem das Wintereis geschmolzen war. Es fiel schwer, die Höhe der Mauer zu schätzen, wenn man so direkt darauf hinabschaute wie sie. Die einzige Unterbrechung darin bestand in einem Doppeltor - und in einem steinernen Labyrinth zwischen innerem und äußerem Tor. Jenseits der Mauer erhoben sich gedrungene, eingeschossige Häuser, aus behauenen Steinen oder Ziegeln errichtet und mit Stroh gedeckt; es gab Felder, von Steinmauern umschlossen, ein grüner Hauch von Vegetation auf manchen, auf anderen einige wenige grasende Tiere. Kleine Gestalten waren auf den weitläufigen Wegen zwischen den Häusern unterwegs oder arbeiteten auf den Feldern. Es schien eine gelassene, friedliche Art von Leben, aber dem Falken gefiel es dort nicht, er sträubte sich gegen Aleytys’
Kontrolle. Sie gestattete ihm zurückzukehren, besänftigte ihn mit kleinen,
Weitere Kostenlose Bücher