Die Fallen von Ibex
Bildschirm wurde dunkel.
Ein paar Minuten lang blieb Aleytys reglos sitzen. Da war kein bißchen Kraft mehr in ihr; absolut nichts mehr. Das also ist meine Mutter, dachte sie und wußte gleichzeitig, daß ihr Shareem nie Mutter sein würde. Eine Freundin, vielleicht, oder eine liebenswerte Bekannte - vorausgesetzt, die Begegnung verlief gut; oder ein Feind, wenn die Begegnung nicht so gut verlief. Das war alles.
Irgendwann versiegte die Schwäche in ihren Knien ein wenig, und sie fühlte sich wieder besser. Sie kehrte in das Büro zurück.
Die Vorhänge vor dem Fenster waren zurückgezogen. Hana saß mit verschränkten Armen da und beobachtete, wie braune Blätter über abgestorbenes Gras geweht wurden. Als Aleytys eintrat, schwang Hana in ihrem Sessel herum. „Du hast sie erreicht?”
„Ja.” Aleytys blieb stehen und sah sie durchdringend an. „Hör zu, Hana, ich weiß nicht, warum ich das tue, aber ich will dir etwas sagen… Ich habe eine Idee. Shareem hat den Code gemeinsam mit Esgards Hilfe erstellt. Beginnt mit meinem Geburtsdatum, das weißt du. Endet mit Shareems Geburtsdatum - hast du das auch gewußt? Nein? Dachte ich mir. Dein Vater hat einen ziemlich seltsamen Sinn für Humor, zumindest das müßtest du wissen. Den Zugriffscode für die Vryhh-Daten… Du hast mir gesagt, daß er ihn am Tag seiner Abreise geändert hat. Denk darüber nach. Du und ich, Mutter und Tochter. Wie es zu ihm passen würde, das gleiche Spielchen mit dir zu spielen, den Code auf deinen Daten basieren zu lassen… Er weiß genau, daß du an etwas so Einfaches niemals denken würdest. Ein Glücksspiel. Dasselbe Glücksspiel, das er mit mir abgezogen hat.”
Hanas Mund klappte herab, und Aleytys wußte, daß Esgard sein Spiel gewonnen hatte - bisher jedenfalls. Vorausgesetzt, er hatte es überhaupt gespielt. „Es ist nur eine Idee; eine Möglichkeit”, sagte sie. Hana blinzelte, starrte Aleytys an, ohne sie wirklich wahrzunehmen; dann ging sie wie eine Schlafwandlerin zur Tür; öffnete sie; verschwand im angrenzenden Raum. Aleytys beobachtete, wie sie sich an der Konsole niederließ, wie sie vor sich hin zu flüstern begann, während ihre Finger über die Sensortasten huschten.
Besessenheit, dachte sie, sah auf ihre Finger hinab und lächelte.
„Wir haben sie alle irgendwie abbekommen.” Das sprach sie laut aus, dann drehte sie sich um und verließ das Büro. Der Warteraum war wieder leer und still,
Sie ging durch diese Stille, trat auf die Straße hinaus und ging weiter; die Promenade entlang, zurück. Der Wind bauschte ihren Mantel, wehte ihn von ihren Beinen zurück und kämmte ihre Haare nach hinten. So viele Jahre hatte sie von Vrithian geträumt, von jenem Ort, der ihre angestammte Heimat war - sein müßte.
Von irgendeinem Ort, korrigierte sie sich dann, der für mich Heimat ist. Geträumt. Es war der alte Impuls hinter all den magischen Geschichten so vieler Kulturen - wünsch dich auf einen Stern, und es sei dir gegeben, was du so ernsthaft begehrst, es sei dir gegeben,ganz und gar; alles ist vorbereitet für dich, alles, wünsch es nur fest genug, und du wirst es bekommen, ganz ohne Mühe. Schlußendlich hatte ihr die Welt Ibex doch etwas gegeben; etwas sehr Wichtiges: Zeit nämlich, Zeit, nachzudenken, und Musterbeispiele, die dieses Nachdenken lenkten. Es gibt keine magischen Orte, es sei denn, man schafft sie sich selbst - mit harter Arbeit und Sorgfalt und Hingabe. Und wie steht’s mit der Selbständigkeit, mit der Unabhängigkeit? Beides hatte sie jetzt. Nichts konnte sie berühren, wenn sie das nicht zuließ. Sie wollte endlich ihren Frieden finden. Das war es gewesen, was sie gehabt hatte, bevor sie gewissen Dingen erlaubt hatte, sie zu sehr zu berühren.
Sie passierte das Kontrolltor der Sternenstraße, die selbst in der grauen Dunkelheit des Schneefalls noch geschäftig war und laut und rauh. Doch der Lärm sprengte etwas in ihr los, und die Benommenheit begann aus ihr herauszusickern; selbst das Grau hellte sich für sie auf. Sie ging schneller, mit großen Schritten, darauf versessen, von dieser Welt wegzukommen, wieder nach Wolff zu kommen, darauf versessen, sich ihren magischen Ort zu schaffen.
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