Die falsche Frau
mich
nicht mehr an sich herangelassen. Hat mich regelrecht gemieden. Mich, seine Mutter.«
Sie schlug die Augen nieder, schwieg für lange Sekunden, sah wieder
auf. »Nein«, fuhr sie mit tonloser Stimme fort. »Er hatte sich schon in den
Jahren davor verändert. Ich wollte es vielleicht nur nicht wahrhaben. Schon vor
dem Abitur hat er begonnen, sich für Politik zu interessieren, und wie junge
Menschen nun einmal sind, waren seine Ansichten sehr radikal. Sehr links.
Burkhard konnte nie damit umgehen. Leider hat er sich immer wieder provozieren
lassen. Dann wurde es laut, es fielen böse Worte, Türen wurden geknallt.
Nachdem Peter seine Studentenbude bezogen hatte, wurde es etwas besser. Ich
hatte gehofft, er würde woanders studieren. In Berlin, in den Staaten. Dort war
er einmal ein Jahr als Austauschschüler ⦠Aber nein, das ist Unsinn, das war ja
kein Austausch, und es war auch kein Jahr â¦Â«
Sie bedeckte die Augen mit der Rechten. Schwieg wieder. DrauÃen auf
der StraÃe spielten Kinder in der Sonne.
»Nun, jedenfalls war er für einige Monate in den Staaten, in Seattle,
und ich dachte ⦠Aber seine Selma ⦠Er wollte zurück. Es hat ihm auch nicht
gefallen, drüben. Diese zur Schau gestellte Religiosität, die Gewohnheit,
selbst die kürzesten Strecken mit dem Auto zurückzulegen. Aber ich denke, es
muss noch etwas anderes vorgefallen sein. Etwas, worüber er nie gesprochen hat.
Peter konnte sich nicht anpassen. Er ⦠Vielleicht hat meine Erziehung in diesem
Punkt versagt, vielleicht ⦠ich â¦Â«
Sie brach ab, schien hinter der Hand lautlos zu weinen.
»Er hatte eine Freundin in Heidelberg?«, fragte ich vorsichtig.
Als fände sie die Vorstellung unanständig, schüttelte sie den Kopf.
Ich lehnte mich in der unbequemen Designercouch zurück und wartete.
Sie würde von sich aus sprechen, sobald sie die Kraft dazu hatte.
»Selma«, sagte sie schlieÃlich und lauschte kurz dem Klang des
Namens hinterher. »Ein nettes Mädchen. Offen, sympathisch, hübsch. Die beiden
waren so ⦠Ich habe mich schon ⦠Bitte lachen Sie nicht, ich hatte mich schon
als GroÃmutter gesehen, und seltsamerweise hat diese Vorstellung mich nicht im
Mindesten erschreckt. Aber dann ⦠Plötzlich war es aus zwischen den beiden. Im
Frühjahr, von einem Tag auf den anderen. Peter hat nie wieder ein Wort über sie
verloren, und ich habe längst nicht mehr gewagt, ihn nach solchen persönlichen
Dingen zu fragen. Er hätte an eine Universität in den Staaten gehen sollen.
Warum hier? Warum ausgerechnet Heidelberg? An der Hochschule, wo sein
Stiefvater �«
»Haben Sie eine Adresse von dieser Selma?«
»Das nicht«, murmelte sie abwesend. »Aber ich müsste ihre
Handynummer noch gespeichert haben.«
»War Ihr Sohn Mitglied einer Partei? Hatte er sich irgendeiner
Gruppe angeschlossen?«
»Peter hat über die Jahre Verschiedenes ausprobiert. Anfangs waren
es die Jusos. Für Burkhard schon ein rotes Tuch. Peter fand sie bald zu
angepasst. Gequatsche, war sein Kommentar, immer nur Gequatsche. Später war er
eine Weile parallel in mehreren Gruppierungen engagiert. Am Ende war selbst mir
nicht mehr klar, mit wem er gerade sympathisierte. An einem Tag ging es ihm um
die zunehmende Verarmung der unteren Schichten. Am nächsten um das
Nord-Süd-Gefälle des menschlichen Wohlstands. Am dritten um das Artensterben.
Die Klimaveränderungen. Die unerhörte Ressourcenverschwendung des Westens, vor
allem der USA natürlich, die er regelrecht gehasst hat. Er war immer so
absolut. Kompromisse existierten nicht in seinem Weltbild.« Plötzlich sah sie
mir mit flammendem Blick in die Augen. »Aber sollen wir denn wirklich wieder in
Zelten leben? Und mit ⦠mit ⦠mit Kameldung heizen?«
Sie schlug die Hände vors Gesicht, atmete heftig. Beruhigte sich
wieder. Eines der Kinder auf der StraÃe hatte sich wehgetan und weinte
hysterisch.
»Können Sie sich vorstellen, dass er irgendwann zum Schluss kam,
dass nur Gewalt gewisse Dinge ändern kann?«, fragte ich.
Sehr langsam, sehr müde schüttelte sie den Kopf. »Sehen Sie, das ist
das Merkwürdige: Ich kann es mir nicht vorstellen. Peter hat Gewalt immer
verabscheut. Er hat sich nie geprügelt, wie Jungs es ja schon mal tun. Burkhard
hat ihm sogar vorgeworfen, er sei ein Angsthase. Eine
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