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Die falsche Herrin

Die falsche Herrin

Titel: Die falsche Herrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margrit Schriber
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mehr wert als der Verdienst eines Knechts. Er wird nie, und wenn er seinen letzten Zahn verliert, nur den winzigsten Teil dieses Werts unter seinem Strohsack horten.
    Es gibt eine Bibliothek mit so vielen Büchern, wie wohl nicht einmal Magnus sie beim Kaiser von China gesehen hat. Die Tafel ist mit einem Tuch aus weißer Stickerei belegt. An jedem Platz steht ein Gedeck. Im großen Teller stehen kleinere Teller, gesäumt von Filigranbesteck. Es gibt Silber statt Blech. Porzellan statt Irdenes. Baumwolle und Seide statt Flachs und Werg.
    Fülle statt Leere. Nicht einmal zu Ostern war Joannes Bosserts Tisch so üppig gedeckt wie der Tisch der Redings an gewöhnlichen Tagen. Platte um Platte wird aufgetragen. Die Gouvernante bedient mit der Schöpfkelle, nicht mit dem Blechlöffel. Das Familienoberhaupt sitzt am Tischkopf. Die Herrensöhne und die Herrentochter säumen die Tafel nach Alter und Bedeutung. Sie reden Welsch. Unsereiner versteht kein Wort.
    Der alte Sebel weiß erstaunlich gut Bescheid über die Gebräuche im Haus. Die Reding’schen unterhalten Beziehungen nach allen Seiten hin.
    Die Bitzenin begreift, dass dies für sie von Vorteil ist.
    Sie wird die Gesandten des Roi-Soleil und jene der Höfe von Neapel, Spanien, Wien und St. Petersburg zu Gesicht bekommen, wird sie beobachten können und ihren Habitus studieren.
     
     
    «Sie zog dem Einfaltspinsel von Knecht die Würmer aus der Nase», behauptet die Gouvernante. «Schwänzelte ein wenig, stapelte eine ordentliche Scheiterbeige. Und schon kannte diese sich einnistende Person die Neuigkeit vom Tag. Als da wäre: Der Kurier des Papstes trifft gegen Mittag ein. Fast zeitgleich kommt sein Widersacher aus St. Petersburg. Da heißt es Maßnahmen treffen, damit die Feinde einander nicht begegnen und schon im Vorzimmer zu Schwyz einen Krieg auslösen.»
    «‹Diplomatie› nennt man es hier», erklärt die Gouvernante dem Fremden, der auch sie beiseite nimmt, um alles über das Mädchen zu erfahren, das die junge Herrin überfiel. Er malt Zeichen in ein Buch, die kein Mensch entziffern kann, und lauscht, und die Gouvernante erklärt ihm die Diplomatie. «Derweil der Päpstliche im Blauen Salon mit Reding taktiert, hält die Herrentochter den Russen auf. Welche Regel der Galanterie sie wählt, entscheidet sie von Fall zu Fall. Sie könnte im Blickfeld dieses Gastes ihr Spitzenfazolet fallen lassen, damit rechnend, dass er es aufhebt, ihr überreicht und ihr seine Begleitung anbietet. Auf Umwegen wird sie ihn dann zum Gelben Salon führen. Dort spielt sie mit ihm Schach, bis sie vom Hof herauf das Klappern der Hufe des päpstlichen Pferdes vernimmt. Dann gibt sie sich schachmatt. Ihr Herr Papa ist im Blauen Salon nun bereit, sein Ohr dem Russen zu leihen, mit ihm zu taktieren. Regimenter stehen für beide Seiten bereit. Und können jederzeit in jede Richtung losmarschieren.» Sie seufzt zum Himmel: «Cette criminelle wurde von Sebel mit allen Einzelheiten der Vorgänge im Herrenhaus vertraut gemacht.»
     
     
    Die Bitzenin lernt. Daneben durchwandert sie das Haus vom Keller bis zum Estrich. Auf diesen Rundgängen fällt ihr ein Medaillon des hohen Fräuleins mit dem Bildnis der verstorbenen Maman in die Hände.
    Das Fräulein Reding geht unbegreiflichen Beschäftigungen nach, so viel ist gewiss. Mit Lilienhänden, passend zur Politur ihrer Möbel, schmilzt sie Wachs für das. Familiensiegel über Redings Briefen, überschlägt Buchseiten, trägt Blumenvasen von einem Möbelstück zum anderen, macht sich mit Kämmen, Schleifen und Halsketten zu schaffen. Und seufzt. Immer wieder. Kerzengerade wandelt sie durch die Räume, presst den Handrücken an die Stirn und seufzt. Begegnet sie dem Herrn Papa, hebt sie ihre Kleidglocke an, stellt ein Pantöffelchen vor, sinkt langsam und feierlich zu Boden, neigt tulpengleich den Kopf, erhebt sich wieder. Und dann setzt sie ihre Wanderung durchs Herrenhaus fort, kerzengerade und seufzend.
    Nie schaut sie zu den Ahnenporträts auf. Ist sie es müde, die längst bekannten Gesichter zu betrachten? Ihre Vorfahren haben eine Geschichte. Jeder Porträtierte ist ein Stern in der Geschichte. Alle lehnen sich in der Galerie zurück und schauen auf die Tochter von Joseph Anton herab, die da wandelt und knickst und wartet, dass ihre Geschichte beginnt.
    Ab und zu leiht Reding seiner Tochter die Chaise. Nicht ohne viele Weisungen und Ermahnungen an den Kutscher. Eingehüllt in Schichten von Decken rumpelt sie dann über die Karrenwege.

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