Die falsche Herrin
Zentrum Europas. Das Welsch, sagt man in Schwyz. Im Westen liegt das Welsch. Wo Leute eine unbegreifliche Sprache reden, ist: das Welsch.
Was weiß die Bitzenin über dieses Land?
Da bettet sich die Sonne. Da gibt es jede erdenkliche Köstlichkeit. Gold und Perlen und Seide. Schöne Mätressen liegen auf Kissen aus Daunen. Sie geben sich Genüssen hin, von denen die Wäscherinnen keine Ahnung haben. Es räkeln sich Hunde mit glänzendem Fell. Die Menschen ersinnen ein Amüsement um das andere. Ihr König treibt das Wasser der Seine über die Maschine von Marly und lässt es mit zweihunderteinundzwanzig Pumpen auf ein Plateau hieven, das fast so hoch ist wie der Zugerberg. Und von dort fließt es durch künstliche Kanäle in die Brunnen und Teiche des Königs, damit er sich auf Schritt und Tritt spiegeln kann.
Es sind viele Leute unterwegs. Sie sind «sans feu, sans lieu, sans aveu». Der König erlaubt nicht, von Stadt zu Stadt zu wechseln. Die Zeiten von Louis XIV seien vorbei, da von einem Weizensamen nur drei bis fünf Körner geerntet werden konnten. Der jetzt regiert, ist Louis XV, der Bien-Aimé. Dem Volk geht es gut, besser denn je. Umherziehende ohne Wohnsitz werden nicht geduldet. Streuner und Obdachlose sind eine Gefahr für alle Bürger. Aufgegriffene werden im Spittel von Paris zur Zwangsarbeit eingeteilt. Das Gesetz ist unerbittlich, die Gefängnisse bersten. Die Sklavenhändler suchen nach Vogelfreien für ihre Galeeren.
Hin und wieder stößt die Bitzenin auf einen Umherziehenden, der ihre Sprache versteht.
«Wir sind das kleine Raubzeug», sagt einer und klopft ihr auf den Rücken.
Er erzählt von der Angst. Dass man nicht schlafen kann vor Hunger und Angst und böser Erinnerung.
«Wir sind ständig auf der Flucht. Manche wandern seit dem Grand hiver im Jahr 1709. Da gefror der Wein in den Fässern, das Brot verwandelte sich in einen Eisklotz, kaum dass man es aus dem Ofen nahm. Hungrige Wölfe kamen aus den Wäldern. Die Leute starben wie Fliegen, die Toten wurden aus den Dörfern gekarrt und irgendwo verscharrt. Wir hatten nur noch einen Wunsch; einen Tod in Würde mit dem Segen der Kirche.»
Der Umherziehende erinnert sich an ein Mädchen, das mit einer Schaufel zum Friedhof ging, als es seine letzte Stunde kommen fühlte. Es habe ein Grab ausgehoben, sich hineingelegt, seine Arme gekreuzt und nach einem Priester verlangt.
Das kleine Raubzeug tastet das Ranzli ab. Und bietet der Bitzenin Schutz. Barfuß hastet sie mit den andern durch die Wälder. Die Nahrung besteht aus Waldbeeren, gekochten Brennnesseln, Abfall und den Kadavern verendeter Tiere. Immer hat das Raubzeug den Weg im freien Feld im Blick. Manchmal galoppieren Reiter des Königs vorüber, und zum ersten Mal sieht die Bitzenin eine mehrspännige Karosse. Sie ist mit Gold verziert, und die Pferde tragen Zaumzeug und Schmuck, die zur Karosse passen. Als die beladene Karre eines Händlers auftaucht, bricht das kleine Raubzeug durchs Unterholz und jagt dem Gefährt nach. Die Händler verkaufen keine Unze Korn. Ist der Winter hart, dann treiben die Preise in die Höhe. Da die Landbevölkerung keine Vorräte hat, erzielen die Händler ein Vielfaches. Nicht nur wohlhabende Bürger, auch Notare, Beamte und Geistliche spekulieren. Selbst die Krämer schließen ihre Läden, um auf das Steigen der Preise zu warten. Es taucht kein Korn Weizen mehr auf.
Doch das kleine Raubzeug kehrt mit einem Sack ins Versteck zurück. Kurz darauf bellen Hunde. Die Bitzenin scharrt das Feuer aus und dringt tiefer in den Wald. Das Gestrüpp der Dornen ist dort für Hunde und Jäger zu dicht. Ab und zu bettet sich eine der Gestalten zum Sterben unter ein Gebüsch. Einmal lässt eine Familie sich mit ihren weinenden Kindern an einen Waldrand fallen. Sie kann nicht mehr. Sie will nicht mehr. Die Frau deutet zu einem runden Taubenturm. Er ist dem Adel vorbehalten. Und der Mann schätzt die Anzahl der Nester.
«Sind es fünfzig? Dann brauchen wir gar nicht erst anzuklopfen, denn die Not hat den Landadel nicht verschont. Manch ein Edelmann kann seine Kinder ebenso wenig ernähren wie der Knecht, der in seinem Dienst steht.»
Vom Umfang des Taubenturms schloss der Mann auf hundert Nester. Demnach gehören zum Gut fünfundzwanzig Morgen Land. Kein Platz mehr und kein Platz weniger. So viel Land, wie ein Zweier-Ochsengespann an fünfundzwanzig Morgen zu Acker fahren kann. Doch dies allein sei noch nicht Grund genug, um beim Besitzer anzuklopfen.
«Du musst»,
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