Die falsche Herrin
1724 legt die Bitzenin ihre Hände aufs Torgitter und blinzelt zu den goldenen Lanzen empor.
Die Köchin schaukelt mit einem Gemüsekorb über den Hof zur Küche. Eine schwerfällige, dicke Person mit Oberlippenbart und dem Namen Babette. Sie entdeckt die Frau am Tor, die Einlass begehrt. Sie trocknet ihr Gesicht mit dem Zipfel der Schürze, setzt die Fülle flatternden Stoffs in Bewegung und ruft nach Clémence. Die Gouvernante erscheint. Alle Schlüssel baumeln an ihrem Gürtel. Sie macht ein grimmiges Gesicht und deutet mit dem Daumen zum Dienstboteneingang.
Aber die Besucherin winkt Clémence herrisch ans Haupttor. Zeigt auf die Schlüssel. Stampft. Rüttelt am Gitter. Und schüttelt unwillig den Kopf.
Das versteht Clémence. Die herrischen Gesten. Befehl, Verärgerung und Ungeduld. Sie schließt mit dem größten ihrer Schlüssel auf und eilt ins Haus, um die Ankunft der Fremden zu vermelden.
«Draußen ist eine mit verfilztem Wollhut, Schnüren im Haar und polternden Landschuhen. Aber sie hat ein herrisches Gebaren.»
Clémence meint, es sei eine von Geblüt im Kostüm einer Streunerin.
«Will sie hier das Kind der Schande gebären? Wie andere junge Frauen, die es dann, ohne einmal in sein Gesichtlein geschaut zu haben, fortgeben?»
Es sehe Clémence nicht darnach aus. Die Frau sei dünn wie ein Spargel.
«Die Elende solle eintreten!»
Und die Bitzenin ist hereingeschwänzelt. Hat einen vollendeten Knicks gemacht.
Eine Dame, das sieht jeder. Ihr Knicks ist vollkommen, ihre Sprache hingegen unverständlich. Ihre Rede ist Gesang und ihr Gesichtsausdruck vertrauenerweckend.
Sie entschuldigt ihre Aufmachung einer Gewöhnlichen mit Gesten des Bedauerns. Schlägt auf ihre Lumpen. «Und dann der Staub. Bon Dieu!» Sie nestelt das Medaillon am Hals unter den Lumpen hervor und klappt es geräuschvoll auf.
«Das ist Maman!»
«La fille s’est sûrement enfuie. La pauvre petite.» Die Dame des Hauses berührt eine Schnur im Haar des Mädchens.
Sieur auf Montlau betrachtet das junge Ding. Auf seinem runden Kopf ziehen sich die Stöße der Knochenplatten zusammen, glätten sich und reiben wieder aneinander. Wie verfährt man mit einer Unbekannten, deren Sprache man nicht versteht, deren Herkunft man nicht kennt und deren Absichten man nicht ergründen kann? Man zitiert Montaigne: «Es ist besser, mit einem Hund zu leben, den man kennt, als mit einem Menschen, dessen Sprache man nicht versteht.»
Die Bitzenin liest in den Gesichtern. Sie kennt den Ausdruck von Zweifel, Zwiespalt, Misstrauen, Herablassung. Aber sie hat beim Anblick des Turms der Nobilité beschlossen, komme, was wolle, zu bleiben. Sie wurde vergewaltigt, geprügelt, ausgepeitscht, von Horden gejagt, hat Berge überquert, gefroren und gehungert, ist wilden Tieren entkommen, hat einem Geliebten den Rücken gekehrt, ist im Eiswasser um ihr Leben geschwommen, hat sich von Abfällen ernährt und unter tausend Gefahren bis zu diesem Château durchgeschlagen. Soll sie sich jetzt wie ein Hund verjagen lassen?
Sie sinkt in einen Stuhl, als könne sie keinen Schritt weiter, und schaut durch die offene Verandatür auf die herabfallenden Terrassen zum Brunnen.
«Versailles», flüstert sie.
«Ici n’est pas Versailles.»
«O!», sagt die Bitzenin. Sie faltet sich in ihren Stuhl. Nach einer schier unerträglich langen Pause nennt sie den Namen des Barons Joseph Anton Reding von Biberegg.
Die Châtelains schauen einander an. Ungläubig. Überrascht.
Die Bitzenin zeigt auf sich und sagt: «Papa.»
Madame schlägt ihren Fächer auf den Mund, die großen Perlen an ihren Ohren wackeln. Auch sie muss sich setzen. Und zum ersten Mal begreift die Bitzenin die Macht dieses Namens. Er hat nicht nur im Lande Schwyz einen Klang. Selbst in einer Entfernung von Wochenmärschen erschrecken die Leute.
Müde lächelnd schmiegt sie ihr Gesicht an die gefalteten Hände. Wer würde es wagen, eine Herrentochter hungrig wegzuschicken?
Auf Wink des Schlossherrn wird das Dîner dans la Grande Salle serviert. Der Name, den sie nannte, ist ein Pfand. Sein Wert? Unbegrenzt!
Er hebt die Schultern. «Et voilà! So ist das!», sagt der Sieur. «Paff!» Mit einem Ruck schiebt er den Kopf vor, vergrößert die Augen und spitzt seine Oberlippe gegen das Kinn, er sieht aus wie ein Raubvogel.
Clémence wird angewiesen, Mademoiselle ein Zimmer zu bereiten. Eines der schönen. Die Suite zum Park.
«Was denkt sich das Mädchen?», fragt in Zug Joannes Bossert seine
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