Die falsche Herrin
sagt er zur Bitzenin, «auf den Zierkranz des Taubenturms achten. Wo führt er um den Turm? Unten herum bedeutet, dass dieser Adelige die Niedere Rechtsgewalt ausübt. Er ist so gut wie machtlos. In der Mitte bedeutet Hohe Rechtsgewalt ohne Todesurteil. Und ist der Zierkranz unter dem Dach angebracht, so übt sein Besitzer Hohe Rechtsgewalt über Leib und Leben aus. Dort solltest du erst recht nicht anklopfen.»
Der Kranz zieht sich in der Mitte um den Turm. Die Familie beschließt zu bleiben.
Für einige Tage wandert die Bitzenin allein. Das Krächzen der Saatkrähen begleitet sie. Sie begegnet nur abgezehrten und zerlumpten Gestalten. Sie sprechen vom Wahnsinn der Palastbauten bei Paris.
«Und der Garten? Ist er schön? Das Geschenk eines Gottes?»
«Es ist ein Garten mit Verstecken. Überall Gewisper, Wollust, Scheißdreck und Intrigen. Er ist das Geschenk eines Teufels.»
Schwyz vergisst. Jeder Tag schwemmt Neues an. Ein Fremder erkundigt sich nach dem Wohnsitz von Fräulein Reding. Der Mann wird zum Tor mit den goldenen Lanzen gewiesen.
«Dort oben! Sie ist noch da. Noch keinem versprochen.»
Lächelnd schwingt der Fremde seine Hand zum Gruß an die Schläfe und steigt den Weg hinan.
«Ein Herr. Gutes Auftreten, angenehme Manieren. Eine zweiäugige Pfauenfeder am Hut.»
Er nimmt ihn am Tor des Herrenhauses vom Kopf. Die Vorhänge des Dorfs bewegen sich.
«Endlich hat die Redingin einen Galan. Seht! Wie sie aufblüht. Sich in der Hüfte wiegt und plappert und dazu den kleinen Armbeutel schwingt. Keine Eile hat sie, durchs Hoftor zu entschlüpfen.»
Sebel, der Knecht, wird im Dorf abgefangen. Man gibt ihm Bränts. Und noch ein Bränts. Man erfährt, dass der Galan direkt aus Asien kommt, dass er Fragen stellt. Dass er am Mund der Redingin hängt wie ein ausgetrockneter Hirte an der Gotthardquelle. Alles will er wissen. Wie sie den Tag verbringt, ob sie sich von einer Zofe bedienen lässt und welchen Namen diese hat. Ob sie die Gerichtsfälle ihres Vaters kennt und seine Urteile. Ob dieser einmal den Namen Anna Maria Inderbitzin erwähnt habe. Jede Einzelheit trägt er in ein Buch ein, jede Kleinigkeit zeichnet er da hinein. Einer, der nicht vertraut ist mit unserer Art, der hier eine Seltenheit entdeckt, die er in ganz Asien gesucht, aber nie gefunden hat. Ein Fremder halt, der Zeit hat, nach dummem Zeug zu fragen.
Währenddessen hat die Bitzenin im Welsch den Südwesten erreicht. Sie steht am Fluss namens Dordogne. Das Meer ist nah. So nah, dass der Fluss den Atem seiner Gezeiten übernimmt. Bei Ebbe kämmt die Dordogne ihren blühenden Algenbart nach Westen. Bei Flut schlägt sie ihn in der moorigen Brühe zu den Weinbergen zurück.
Warum die Bitzenin hier die Reise unterbricht? Warum an diesem und keinem anderen Ort?
Sie weiß es wohl selber nicht. Es ist eine Laune. Oder ihre Müdigkeit. Vielleicht hat sie die Loire verpasst. Die bedeutenden Wege zum König wimmeln von Gendarmen, Söldnern und Händlern. Es schien ihr ratsam, diese Wege zu umgehen. Dabei ist sie wohl, von Bluthunden gehetzt, zu tief in den Süden geraten.
Beim Anblick der Weinhänge und der Schlösser verliert sie schließlich die Lust, mit einer Rotte von Kleinraubzeug durch die Wälder zu hasten.
Sie sinkt an ein Wiesenbord und öffnet ihr leeres Ranzli. Da entdeckt sie auf dem Hügel den Taubenturm der Nobilité, groß genug für hundertfünfzig Nester. Der Mauerkranz führt in der Mitte um den Turm. Sie denkt: «Dieser Adelige ist reich. Und er darf keine Todesurteile fällen. Dieser ist der richtige.»
Auf dem höchsten Punkt des Hügels steht das Schloss des Adligen in einer Lichtung. Die Winzer nennen es das Château. Sie zeigen der Zerlumpten den kürzesten Waldweg hinauf. Das zweigeschossige Gebäude wird auf beiden Seiten von Türmen und Stallungen gerahmt. Im oberen Stockwerk sind einige Fensterläden geschlossen, nur im unteren Gebäudeteil sind alle Läden zurückgeschlagen. Die hohen Fenster stehen teilweise offen. Die Stuckaturen sind zerbrochen, die Quadern haben rußige Streifen, Efeu wächst am Mauerwerk empor, Brennnesseln wuchern, und auf dem eingedrückten Dach gurren Tauben. Aber der Blick vom Château auf die Weinberge des Bordeaux ist unbegrenzt.
«Hier lerne ich Welsch», sagt sich die Bitzenin. «Von hier aus kann ich sehen, wer kommt, wer geht. Welche Chaise das Gut durchrollt und einbiegt in den gekiesten Hof, welche Wappen auf den Türen prangen.»
Am 15. Mai des Jahres
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